Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

hat vom Volke und seinem Friedensleben mindestens so viel empfangen wie sie ihm gegeben hat. Beide sind eine organische Einheit, kein Teil kann ohne den andern bestehen, und deshalb wirkten auch alle politischen Gegensätze zwischen beiden so aufreizend=künstlich und mühsam agitato¬ risch auf beiden Seiten. Die von draußen zurückkommen, werden nie in den alten Widersinn zurückfallen, wenn sie nicht von den ewig Zuhausegebliebenen, den nie Lernenden und nie Erlebenden, den ewig Alltäglichen hineingehetzt werden. Auf Schritt und Tritt fühlt man hier draußen, wie wertvoll das Friedensleben des Volkes für die Kriegsarbeit ist; ein wie organisches Abbild des Volkes und seiner besten Leistungen das Heer be¬ deutet. Zumal heute, wo der Sieg längst nicht mehr mit Stechen und Schießen allein erungen wird, sondern ein unge¬ heurer Wirtschafts= und Verkehrsapparat dazu nötig ist. Der wäre nicht zu schaffen ohne die Fülle von Fähigkeiten, die un sre Leute aus dem bürgerlichen Beruf mitbringen, und ohne die persönliche Fin¬ digkeit, das oft erstaunliche Geschick, die Initiative des einzelnen. Was da im stil¬ len geleistet wird, ist so gut Weltgeschichte wie diese oder jene Schlacht. Als besonders typisches Muster für diese Friedensarbeit im Kriege mag die Arbeit der Eisenbahner erscheinen, die im ganzen Heere gerühmt wird und natürlich im Westen mehr hervortritt als im Osten. Wir hatten besonders viel Ge¬ legenheit zu näherer persönlicher Be¬ kanntschaft: diese freundschaftlichen Be¬ gegnungen mit den durchwegs gebildeten, tüchtigen Leuten werden mir immer zu den liebsten Erinnerungen unsrer Kreuz¬ und Querfahrten gehören. Die Wohnun¬ gen unsrer Eisenbahnfreunde in ihren Wagen waren oft eine Sehenswürdigkeit für sich: mit ihrem aus allen Weltgegen¬ den requirierten Inventar. Ueberigens ge¬ hört es nicht zu den geringsten Reizen des Lebens im Felde: daß es so unmittel¬ baren Einblick in die Fülle der Berufe gibt und auch hier überall das Wesent¬ 387 liche hervortreten läßt. Alles muß ja mit den einfachsten Mitteln erkeicht werden. In einer großen Webfabrik sahen wir die Schlächterei eingerichtet, die ein Armeekorps versorgte, mit Badewannen als Brühkesseln, übrigens eben zum Ab¬ bruch und zur Uebersiedlung in ein großes Gut in einem andern Teil Frankreichs ge¬ rüstet. Ein andrer Flügel der Fabrik war in Betrieb und lieferte für die Armee. Ein dritter Teil endlich diente als Feld¬ lazarett: auch hier alles von den For¬ derungen des allernächsten Augenblicks er¬ füllt. Eine Ecke des Saales, in dem meist Leichtverwundete lagen — bunt durchein¬ ander und sich sträflich langweilend, so daß wir mit ein wenig Lesestoff gewaltige Freude stifteten — war als Operations¬ raum abgeteilt. Am nächsten Tag schon ahn wir das ganze Lazarett ohne die Kranken auf Wagen verpackt an uns vor¬ überziehen. Friedens= und Wirtschafts¬ arbeit leisten aber alle in den Dörfern hinter der Front, die so sauber aussahn, wie wohl nie zuvor, solange sie bestehn. Zufällig waren sie von Kaisers Geburts¬ tag her mit Fichtengrün geschmückt: ein überaus freundliches Bild deutscher „Bar¬ barei“. Stolz zeigten uns Unteroffiziere, die in ihrem Zivilberuf von Landwirt¬ schaft weit entfernt waren, bei unsern Besuchen ihre „Wirtschaft“: den sauber aufgeräumten Stall mit ein paar Kühen, die Schweinezucht, das Wagengerät, ihre ordentlichen Stuben in verlassenen Häu¬ sern oder bei friedlich=resignierten fran¬ zösischen Bewohnern in Einquartierung. Unsre Leute haben sich nicht nur mili¬ tärisch des gesamten Lebens in diesen meist sehr verödeten Dörfern bemächtigt, sie haben durch ihre Arbeit und ihre Anordnungen ihnen ein völlig neues Ge¬ präge gegeben. Sie pflügen das Land für eine Ernte, von der es ja noch keines¬ wegs klar ist, wer sie heimsen wird: zum Teil mit eigens aus der Heimat beschafften Geräten. Sie verwalten die ungeheure Beute, die die Besetzung von einem Zehntel Frankreich bedeutet, sorg¬ sam und nützen sie so, daß die Werte des 25

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