Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

beigesetzt zu sehen. Auf dem Markte war davon geredet worden, daß die Leiche bereits unterwegs sei und am andern Tage in einem dreifachen Sarge ein¬ treffen solle. Von all dem Träumen und Hoffen eines Glück ersehnenden Herzens war Paula nichts geblieben als ein stummes Grab. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, dem Geliebten zu folgen, aber der Tod, um den sie täglich betete, wollte nicht kommen. Allabendlich, wenn es zu dämmern begann und ihre fleißigen Hände wegen der Lichtersparnis ruhen mußten, wanderte sie hinaus auf den Friedhof. Nie ohne Blumen. Von den Stöcken an ihrem Fenster brach sie die frisch erblühten. Er hatte sie ja geliebt, weil sie ihre Nähe teilten. Heute trug sie eine besonders herr¬ liche Rose. Wie Tau glänzten auf ihren Blättern die darauf gefallenen Tränen. Als sie sie schluchzend niederlegte, fielen ihr Alberts Lieblingsverse ein, die sie o oft aus seinem Munde gehört, und selbstvergessen, in weher Erinnerung sprach sie die Worte laut vor sich hin: „O lieb', so lang du lieben kannst, O lieb', so lang du lieben magst Die Stunde kommt, die Stunde kommt, Da Du an Gräbern stehst und klagst.“ „Sie ist gekommen,“ sprach plötzlich eine tiefe, von Schmerz erstickte Stimme hinter ihr, „o, mein Gott, wie recht Sie haben!“ Erschrocken wandte sich das schwarz¬ gekleidete Mädchen um und sah in das faltige, vergrämte, von schneeweißem Haar umrahmte Gesicht eines alten, ge¬ brochenen Mannes. Kaum erkannte sie Alberts Vater wieder. Und die Ueber¬ raschung, von ihm angesprochen zu wer¬ den, war so groß, daß ihr die Sprache versagte. Der einst so stolze, vom Schicksal aller seiner Hoffnungen beraubte Mann trat noch einen Schritt näher. „Mein Fräulein,“ sagte er leise, „es ist nicht das erstemal, daß ich Sie hier 379 um den teuren Toten weinen sehe. Ihre Liebe war echter, als ich glaubte. Beten Sie auch für mich, denn seit ich das weiß, läßt es mir keine Ruhe mehr. Ich trage die Schuld, daß er glücklos dahingehen mußte — ich —“ Er kam nicht zu Ende, denn der Wärter, der das Tor schließen wollte, forderte zum Verlassen des Friedhofs auf. Paula entfernte sich mit stummem Gruße. Trotz der versöhnend klingenden Worte hatte die Begegnung etwas Pein¬ liches für sie. Noch fehlte ihr die nötige so Fassung, dem alten Manne, der ihr. lange wie ein Todfeind gegenübergestan¬ den, näherzutreten. Vielleicht ein ander¬ mal, wenn das gemeinsame Leid sie wieder an der gleichen Stätte zusammen¬ führte. Aber Wochen vergingen, ohne daß es geschah. Solch hoher Schnee war heute ge¬ fallen, daß sie das Grab des Geliebten nicht hatte aufsuchen können. Das frühe Dunkel des Winterabends hüllte be¬ reits die kleine Stube in graue Schatten. Aber Paula mochte die Lampe noch nicht anzünden. Wozu die Mutter wecken, die auf dem Sessel neben dem Ofen einge¬ chlafen war. Sie lehnte sich im Sofa zurück und lauschte dem Ticken der klei¬ nen Schwarzwälder Uhr. Wie oft hatte ihr Herz es mit fie¬ bernden Schlägen oft begleitet, wenn sie Albert erwartete. Jetzt sagte es ihr nichts mehr. Und doch weckte es Träume und Erinnerungen. Sie glaubte wieder den Schritt des Geliebten, den sie aus Tau¬ senden erkannt hätte, in der engen Gasse zu hören. Näher kam er und näher, jetzt die Treppe herauf. Erschrocken fuhr sie auf. Es klopfte ja. Sie mußte wohl wirklich geschlafen haben. Da öffnete sich die Tür, und in starrem Entsetzen hafteten ihre Augen auf dem Eintretenden. „Mutter! Mutter!“ schrie sie gellend auf, die Glieder von eisigem Froste

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