Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

Leitern empor. Gott sei Dank! Endlich ein Atemzug frischer Luft. Die See wogte in langer, schwerer Dünung, daß die Massachusettes wie ein Spielball in die Wogentäler sank und, wie von einer Rie¬ senfaust gedreht, von Back= und Steuer¬ bord rollte. Ein graues Abenddämmern spann seine unsichtigen Schleier über die graue See, die mit dem grauen Him¬ mel zu verschmelzen schien. Heinz hielt inne und späte scharf aus; nach seiner Rechnung mußte die englische Küste bald in Sicht kommen. Doch man sah nichts als Wogen und Wolken. Zwei Fahrgäste kamen eben an ihm vorüber. Der eine, ein alter Herr mit einem karrierten Mantel und einer kar¬ rierten Klappmütze kennzeichnete sich als Vollblutengländer. „Ich sage Ihnen, Sir,“ sagte er stehenbleibend zu seinem Begleiter in einem gurgelnden Englisch, „wir müssen gewinnen. Wir kämpfen nicht nur mit den Waffen, wir kämpfen noch mehr mit unsern Rotationspressen, mit unsern Ueberseekabeln — alles kämpft bei uns mit! Deutschland ist umschnürt vom ersten Tage an, von der Welt abge¬ schnitten. Wir haben nicht nötig, unsere Kampfschiffe vor Helgoland in den Grund bohren zu lassen, wir besorgen das Geschäft der Erdrosselung an den Kü¬ sten von China und Argentinien ebenso sicher. Und der Druck wirkt. Ich habe Informationen über Deutschland. Sie haben nichts mehr zu essen. Sie ratio¬ nieren. Wie lange noch? Glauben Sie, Lebensmittel wären das Einzige, woran sie Not leiden? Wir wären ja Stümper! Sie haben bald nichts mehr anzuziehen, keine Kleider, keine Stiefel, keine Strümpfe, kein Garn, keinen Zwirn. Was sagen Sie nun?“ „Es ist doch ein entsetzlicher Ge¬ danke, ein ganzes Volk auszuhungern,“ erwiderte der andere, anscheinend ein amerikanischer Quäker. „Was müssen Frauen und Kinder leiden!“ 311 Der alte, gemütvolle Herr lachte aus vollem Herzen. „Was kümmert das uns?“ fragte er dagegen. „Warum hat Deutschland die Anmaßung oder, besser gesagt, Unverschämtheit besessen, alles besser machen zu wollen, als wir? Deut¬ sche Schiffe, deutsche Fabrikate, deutsche Erfindungen, immer first rate. Wären sie Kleinbauern geblieben, sie hätten es sich sparen können, dem britischen Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden. Haha!“ Er lachte noch lauter, und auch der an¬ dere stimmte ein. Eine Schiffskellnerin trat heran, ein hübsches, schlankes Mädchen, rötliches Haar quoll unter ihrem weißen Häub¬ chen. Sie streifte Heinz mit einem heim¬ lichen, freundlichen Blick und sagte nur: „Supper is ready, gentlemen!“ Beide Herren trampelten eilig davon. Heinz stand einen Augenblick in düstere Gedanken versunken. Sah es wirk¬ lich so in Deutschland aus? Auch er hatte Frau und Kinder daheim. Drohte ihnen das Hungergespenst mit seiner knö¬ chernen Faust? Saßen sie vielleicht vor leeren Tellern? „Mutti, ich habe solchen Hunger!“ War das auszudenken? „Wir sind wohl bald drüben in Die England? Meinen Sie nicht?“ hübsche Kellnerin stand vor Heinz. „Ja!“ anwortete Heinz, aus seinen Gedanken auffahrend, auf deutsch. Er fuhr beim Klange seines eigenen Wortes zusammen. Er hatte sich verraten. Er hatte eine Mitwisserin, daß er ein Deut¬ scher war. Wieviele Leidensgenossen wa¬ ren auf diese Art entdeckt und gefangen worden. „Des!“ verbesserte er sich schnell. Das Mädchen nickte. „Sie brauchen nicht zu erschrecken,“ sagte sie lächelnd und drückte ihm verstohlen die Hand. „Ich bin eine Irin.“ Da tauchte plötzlich ein runder Turm aus den Fluten, ein Warungsschuß krachte herüber, die deutsche Kriegsflagge stieg. Auf der Massachusettes klang der Maschinentelegraph, die Kommandopfei¬ fen gellten, die Bedienungen rannten an

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