Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

gerzeig? War das nicht der geeignete Augenblick, um all die heimlichen Wünsche anzubringen? Wie ein Feuerstrom ging's durch die arbeitenden Männer und Frauen. Der Augenblick des Forderns war ge¬ kommen. Kaum je wieder bot sich eine so günstige Gelegenheit. In dem riesigen. Fabrikssaal herrschte fieberhafte Spannung. Heut oder nie! Und nun öffnete sich die Tür. Voran der Direktor und neben ihm drei Offiziere, ordengeschmückt, mit durch¬ furchten Gesichtern. Hunderte von Au¬ gen flogen nach der Tür. Ja, war das dort nicht jener General, den man erst kürzlich in allen Zeitungen genannt hatte, weil er die eine Armee so glorreich zum Siege geführt hatte? Der Name ging flüsternd von Mund zu Mund — ja, ohne Zweifel, er war es selbst. Und der Ordenbesternte lächelte ganz leise und schaute sich im Kreise um, und plötzlich war es ihm, als schwirre etwas Unheilvolles hier in dieser arbeitsreichen Atmosphäre. Wieder sah er sich um. Tausend Hände regten sich. Aber was war denn das eigentlich, das ihn be¬ drückte? Von einem Podium stieg der Werk¬ meister herab, um die Vorbeikommenden ehrfurchtsvoll zu grüßen. Da war mit zwei langen Sätzen der Ordenbesternte auf dem Podium. Er wußte selbst nicht, was ihn trieb, aber in ihm war etwas, das mußte gesagt werden; er hob die —— Arme hoch empor noch wenige Sekunden, da standen all' die Räder still — kein Laut durchbrach die Stille. Noch einmal schweiften die Augen des Offiziers über die Männer und Frauen, sein Blick wurde weich, fast zärt¬ lich. Die Stimme klang fest, und doch zitterte eine tiefe Bewegung hindurch. „Leute! Es ist das erstemal, daß ich einen solchen Raum betrete. Seit Jahren stehe ich nur inmitten meiner tapferen Heldenscharen da draußen im Feld. Sie kämpfen für unser geliebtes 307 deutsches Land. Heut' sehe ich, daß auch Ihr alle ihnen würdig an die Seite zu stellen seid. Nichts wird Euch wanken machen, gleich jenen haltet Ihr durch! Und so hat unser Vaterland nicht nur eine Heldenarmee, nein — ein ganzes deutsches Heldenvolk wohnt in unseren Grenzen, und die da draußen, die wer¬ den es Euch nicht vergessen, was Ihr hier für sie tut. Sie danken es Euch mit Blut und Leben, denn, seid dessen immer eingedenk, wenn Ihr nicht wäret, wir könnten den Feind nicht besiegen. Aber Ihr steht hinter uns, eine Armee tapferer Männer und Frauen, und da¬ rum mußte ich Euch heute einige Worte des Dankes sagen.“ Unter tiefem Schweigen war er vom Podium herabgestiegen und hatte sich wieder der kleinen Schaar zugesellt; un¬ ter tiefem Schweigen verließ der Direktor mit seinen Begleitern den Saal. Alle Köpfe waren gesenkt, tief ge¬ senkt. Von den kahlen Fabrikswänden aber hallte eine warme Stimme wieder: „Wenn Ihr nicht wäret.“ Gertrud aber schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Was hatte sie einst zum Gatten gesagt? Waren das nicht dieselben Worte? Und nun klang es von draußen her nach der Heimat: Wenn Ihr nicht wäret! Ja, wenn all die Tausende, die hier ihre Hände regten, wirklich nicht waren, wenn man auch nur für eine Stunde aussetzte, was dann? Dann stan¬ den vielleicht auch eine Stunde lang Tausende von tapferen Kämpfern mit leeren Händen draußen in Not und Ge¬ fahr, wehrlos, denn die, die daheim für jene arbeiteten, versagten den Dienst. Ja, mein Gott, hatte sie denn das nie bedacht? War das nicht gleichbe¬ deutend mit Mord? Nahm man auf diese schändliche Weise nicht denen im Felde die Waffen aus der Hand? Lieferte man sie nicht geradezu dem Feinde aus? Wenn Ihr nicht wäret! Das spra¬ chen an der Front vielleicht tausende, die sich darauf verließen, daß daheim 20*

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2