Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

306 Gemeinsam beriet man. Leicht wurde es Gertrud nicht, aber sie biß tapfer die Zähne zusammen, und wenige Tage spä¬ ter arbeitete sie in einem großen Be¬ triebe mit zahlreichen anderen Frauen. Das war jetzt schon über ein hal¬ bes Jahr her. Wie lange sollte es noch so weiter gehen? In jedem neu herauf¬ ziehenden Monat hoffte man auf Frie¬ den — und der kam nicht. Die Arbeit in den Fabriken häufte sich. Alle Kräfte wurden angespannt. Da begann man langsam zu murren. Es wäre besser, man machte nun endlich Frieden, dann kämen die Männer wie der heim, dann brauchten die Frauen nicht mehr vor den Maschinen zu stehen, dann würde auch die Lebensmittelfrage besser werden. Und immer lauter wurde der Ruf: Macht Frieden. Aber die meisten Lippen schlossen sich wieder still und scheu, als man hörte, daß der Feind sich selber wei¬ ter zerfleischen wollte und mit frecher Gier unmögliches verlangte. „Es geht nicht,“ murmelte der blasse Mund „um den Preis können wir es nicht.“ Dann regten sich die Hände weiter, und leise klagend verhallten die Seufzer an den kahlen Wänden des Fabrikssaales. Aber unter der Schaar tapferer deutscher Frauen ging auch ein Feind umher, der erst leise und unmerklich und dann immer mehr sein Gift verspritzte. Da waren Männer und Frauen, deren Wiegen nicht unter urdeutschen Eichen gestanden hatten, die man erst später auf deutsche Erde gebracht hatte und die nur wenig wußten von dem hohen Stolz, ein Vaterland zu haben. Wenn aber die Glocken herrliche Siege einläu¬ teten, dann warfen auch sie sich in die Brust und kündeten mit stolz erhobenem Haupt: „Wir sind Deutsche, wir sind die Sieger.“ Und diese gingen jetzt umher und suchten mit gierigen Händen schwankende Seelen zu fassen, um ihnen zuzuflüstern „Wenn die da draußen nicht Frieden wollen, so müssen wir selbst ihn brin¬ gen. Wir können es, denn wir liefern das Material. Wer will Krieg führen, wenn die Munition fehlt?“ Man wies die Versucher von sich aber sie kamen wieder: „Sorgt wenig¬ stens dafür, daß ihr besser zu essen be¬ kommt. Legt die Arbeit nieder, dadurch zwingt Ihr den Staat — er braucht Euch. Aber auch dazu schüttelten die in deutscher Treue Gefestigten den Kopf. Der böse Feind aber bohrte wei¬ ter: „Macht doch den Versuch. Man gibt Euch sofort mehr Brot.“ All die aufreizenden Worte schwan¬ gen im Raume. Hin und wieder hörte man ein erschrecktes Tuscheln, ein Flü¬ stern, hin und wieder senkten sich bei forschenden Blicken einige Augenpaare scheu zu Boden. „Wir wollen ja nichts Schlimmes,“ raunte man sich zu. „Aber man könnte es vielleicht einmal versuchen. „Versucht es,“ spornt der böse Feind an. „Versucht es. Das war vor wenigen Tagen ge¬ wesen. Auch zu Gertrud waren die Worte gedrungen. Sie hatte den Schwa¬ ger gefragt. Der hatte sie lange, lange angesehen und war dann schweigend aus dem Zimmer gegangen. Aber gestern war er von selbst zu ihr gekommen und hatte wieder davon angefangen. „Man müßte es vielleicht versuchen so viele sagen es.“ Die Worte waren ihr nicht mehr aus des Kopf gegangen. Heute früh in der Fabrik hatte sie mit ganz anderen Ohren auf das Geflüster gehört. Und nun saß sie jetzt hier bei den Eltern am Tisch, und immer wieder war all ihr Denken nur auf das eine gerichtet: Man müßte es vielleicht versuchen. Am nächsten Morgen gab es in der Fabrik eine neue Unterhaltung. Man wußte, daß heute einige hochgestellte Per¬ sönlichkeiten in den Direktionsräumen vorsprechen wollten, es gab wohl einiges zu besprechen. War das nicht ein Fin¬

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