Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

„Da hört sich doch alles auf, na — dem Herrn werde ich meine Meinung gründlich sagen — so ein Lümmel! Das Beste ist, ich gehe gleich mal selber her¬ unter zu Frau Gottschalch ...!“ Während Tilde Mühe hat, die Trä¬ nen zu unterdrücken, läuft die Mutter zornschnaubend ein Stockwerk tiefer, um bei der Hauswirtin sich energisch über den zudringlichen Milchfuhrmann zu be¬ schweren. Heute ist der Tag großer Ueber¬ raschungen.. „Ja — das ist freilich etwas anderes ja — liebe Frau Gottschalch, das habe ich ja gar nicht gewußt, da sagen Sie mir doch etwas ganz Neues! Das ist also ... sagten Sie ... der Sohn von Herrn Rittergutsbesitzer Krause selber, der die Milch bringt?“ „Jawohl, Frau Amtsgerichtsrat, das ist Herrn Oekonomierat Krauses dritter Sohn. Was der älteste ist, der steht als Reserveleutnant bei den 103ern im Felde, der zweite ist Domäneninspektor und lei¬ tet in Frankreich gegenwärtig große land¬ wirtschaftliche Arbeiten .. . Na . . . und weil es jetzt mit den Arbeitskräften auf dem Lande sehr knapp ist, da springt der Jüngste von Herrn Krause selber ein ... Er will eben nicht so eine alte Kundschaft wie uns schlecht bedient sehen, und da bringt er uns die Milch selber. Ach, das ist'n sehr netter Mensch, ein bißchen geradezu zwar, aber der hat's hinter den Ohren, ist'n heller Junge ich hab ihn von je gern gehabt .. .!“ Frau Amtsgerichtsrat Heise steigt um eine Lebenserfahrung reicher die Treppe nach ihrem Zimmer hinauf. Tilde wun¬ dert sich, wie freundlich heute die Mut¬ ter zu ihr ist. Am Nachmittag gegen 4 Uhr, gerade als die Damen ihren Spaziergang an¬ treten wollen, klopft es bescheiden an der Tür. Frau Amtsgerichtsrat öffnet vor ihr steht der Milchmann — und ja . .. ist er das wirklich? — Keine *** Kniehosen, kein Schillerkragen, kein wir¬ res, unordentlich gekämmtes Haar, nein 285 Herr Fritz Krause trägt ein langes Bein¬ kleid, gelbe Strandschuhe, einen moder¬ nen, blendend weißen Stehkragen, schmuk¬ ken, dunkelgrünen Samthut und in der rechten Hand hält er einen Strauß pracht¬ voller Junirosen. Ganz artig sagt er, daß er zu seinem großen Bedauern von Frau Gottschalch gehört habe, Fräulein Tilde sei leider stark erkältet und er Fritz Krause — er stellt sich natürlich sogleich vor — wollte sich nur erlauben, sich nach dem Befinden des gnädigen Fräuleins zu erkundigen. Frau Amtsgerichtsrat ist äußerst lie¬ benswürdig. Da sich die Gelegenheit ge¬ rade so günstig trifft, so begleitet Herr Fritz Krause die Damen auf ihrem Spa¬ ziergang, der heute — natürlich ganz zu¬ fälligerweise — nach jener Kaffeestation hinausführt, die in der Nähe des Schlo߬ gutes gelegen ist. Als Herr Krause die Damen verläßt, sagt er mit etwas verlegenem Lächeln, er würde sich außerordentlich freuen, wenn er der gnädigen Frau Amtsgerichtsrat und dem gnädigen Fräulein Tilde das Gut mit dem großen Garten usw. usw. zeigen dürfte. Dankend nimmt man an, und einige Tage später sitzt man auf der schönen Gartenterasse des Schloßgutes, atmet Ro¬ sendüfte und ißt trotz der Kriegszeit die herrlichste Landbutter in unbeschränkter Menge zu den Kaffeesemmeln. Frau Amtsgerichtsrat Heise findet, daß Frau Oekonomierat Krause eine entzückende alte Dame ist, und diese wieder findet, daß Frau Heise recht hat, wenn sie meint, daß die diesjährige Kur Fräulein Tilde doch nicht so recht zu bekommen scheine, sie sehe immer noch blaß aus und .. . „ . . . da wäre es wirklich nötig, daß Fräulein Tilde eine recht ordentliche und richtige Nachkur hielte . “ meint Frau Krause zu ihrem Besuch. Das Wort Nachkur nahm Frau Amtsgerichtsrat mit besonderem Nach¬ druck auf. Sie schien sogar darüber nach¬ zudenken. Dabei freilich hatte sie nicht bemerkt, daß Fritz Krause und ihre Tilde

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