Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

284 „Sie bringen also jeden Tag die Milch hieher ins „Edelweiß“?“ „Jaa — wie Sie sehen. Dort drüben steht mein Wagen, mit dem Esel davor.“ Tildes Augen folgten der Richtung des ausgestreckten Zeigefingers des Jüng¬ lings mit dem Schillerkragen. In der Tat — da drüben an der Ecke sieht sie ein kleines Idyll, bestehend aus einem schmucken, vierrädrigen Milch¬ karren, vor den ein graues Langohr ge¬ spannt ist. Zur Belohnung hiefür erzählt Tilde dem Milchmann, daß sie jeden Morgen nach dem Ambrosiusbrunnen geht, um gemäß der Vorschrift des stren¬ gen Hausarztes zwei Becher dieser edlen Quelle zu schlucken. — „Na so was, Fräuleinchen das trifft sich ja großartig! Da können Sie ja jeden Morgen ein Stück fahren. Das „Edelweiß“ ist der letzte Fleck, auf dem ich früh zu tun habe, dann kutschier' ich meinen Milchwagen wieder auf unser Gut hinaus. Am Ambrosiusbrunnen komme ich direkt vorbei ... Ich bin nämlich vom Schloßgut, wenn Sie das kennen, draußen in Langhosen ... Tilde kennt es wohl, denn gleich in dessen Nähe liegt eine beliebte Kaffee¬ station, in der sie öfter mit ihrer Mut¬ ter eingekehrt ist. Fräulein Mathilde Heise hat es jetzt jeden Morgen sehr eilig, um ja nicht den Anschluß an ihrem Milchmann mit dem Eselwagen zu versäumen. Pünktlich setzt dieser sie stets in der Nähe des Am¬ brosiusbrunnen ab. Doch Tilde hat nicht damit gerechnet, daß es in der Welt böse Menschen gibt, besonders in kleinen Badeorten, in denen man viel Zeit hat, seine lieben Mitmenschen bei ihrem mor¬ gendlichen Tun und Treiben zu beob¬ achten. Ein paar Bekannte von Frau Amts¬ gerichtsrat Heise haben zu ihrem Ent¬ setzen festgestellt, daß Tilde mit dem Milchmann in aller Herrgottsfrühe spa¬ zieren fährt. Frau Heise traut ihren Ohren nicht, als sie die Geschichte hört. Sie nimmt sich fest vor, Tilde ernstlich zur Rede zu stellen, denn sie zittert um ihren und ihrer Tochter guten Ruf ... Da will es der Zufall, daß sich Tilde eines schönen Morgens infolge der noch recht kühlen Morgenluft auf dem Kutschbock des Milchwägelchens einen bösen Schnupfen holt. Gegen Abend des nächsten Tages bekommt sie Fieber und verbringt eine schlaflose Nacht. Als Frau Amtsgerichtsrat mit der Miene eines Großinquisitors nach der Ursache der Er¬ kältung forscht, wird Tilde verlegen und beginnt zu stottern. Die Zornesschleuse von Frau Heise entlädt sich mit elemen¬ tarer Wucht über der Tochter Haupt. Sie sagt dieser die morgendlichen Spa¬ zierfahrten mit den Milchmann auf den Kopf zu und knüpft daran allerhand vor¬ wurfsvolle Betrachtungen wie: — „Was es denn eigentlich dann für einen Zweck hätte, das viele Geld für die teure Ba¬ dekur auszugeben, wenn man sich leicht¬ sinniger Weise durch solche Dummheiten erkälte und obendrein noch in den Augen der Leute blamiere. Zumal ihre Blässe noch gar nicht besser geworden sei, und man nun schon über drei Wochen hier ei, und was dann eigentlich die Nachkur für einen Zweck habe usw. usw.“ Am nächsten Morgen in aller Frühe will Tilde aufstehen und sich anziehen. „Du bist wohl nicht gescheut, Mädel, Du fieberst ja noch. Gleich legst Du Dich wieder nieder. Ich werde Dir durch die Wirtin einen heißen Tee heraufbringen lassen.“ Tilde hört zerstreut zu. Verstohlen ruht ihr Blick auf der Wanduhr. Jetzt wartet schon der brave Jüngling mit dem Schillerkragen und seinem Eselwagen. Frau Amtsgerichtsrat Heise aber steht am Fenster und späht durch die Gardine. Mit Argusaugen entdeckt sie das Idyll mit dem Esel. Sie sieht auch den Milchmann, der ein paarmal kräftig mit der Peitsche knallt und jetzt — so eine Unverschämtheit — pfeift er, pfeift ganz deutlich ein Signal ...

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