Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

tunde an wogte durch die Straßen, die ihren Trauerschmuck vollendet hatten, ein ungewöhnliches Leben. In Trauerkleidern waren die Wiener gekommen, um Ab¬ chied von ihrem Kaiser zu nehmen. Das gespenstisch flackernde Licht florumwun¬ dener Laternen sah auf eine ernste Ge¬ meinde herab. Die Arbeit ruhte. Das Geschäftsleben der Stadt hielt vollkom¬ men inne, die äußeren Bezirke waren fast menschenleer, zu Hunderttausenden kamen sie gegen die innere Stadt gezogen. Kurz nach 12 Uhr wurde der Burg¬ platz vollkommen geräumt; Kaiserdra¬ goner und Hofgendarmen hielten an den Zugängen strenge Wache. Um 1 Uhr nachmittags fand in der Hofburgpfarrkirche die erste feierliche Ein¬ segnung mit großer Assistenz statt. Um 2 Uhr wurde der Sarg gehoben und von Hofsaalkammerdienern und Leibla¬ kaien zu dem Leichenwagen in den Schweizer Hof getragen. Nachdem der Sarg nochmals eingesegnet worden war, setzte sich der Leichenwagen unter dem feierlichen Geläute aller Kirchturmglocken in Bewegung. Voran ritten zwei Reitknechte mit Laternen, es folgte eine Eskadron Ka¬ vallerie, hierauf ein Hofeinspanier in sei¬ ner mittelalterlichen, höfischen, malerischen Tracht, mit dem Stabe in der Hand, die großen sechsspännigen Staatskarossen mit den treuen Paladinen des Kaisers, wieder Hofreitknechte, wieder Staatskarossen und dann der mächtige achtspännige Trauer¬ Galaleichenwagen mit dem Sarge des Toten. Ehern klingt der Schritt der Traban¬ ten und Helebardiere, die in zwei Rei hen den Sarg flankieren. Die weißen Hosen in den hohen Stulpstiefeln der Trabanten, ihre silbernen Helme, die roten Röcke und die weißen, wallenden Mäntel sind Details einer Farbensym¬ phonie, die im Augenblicke vergessen läßt, daß ein Trauerzug an uns vorbeikommt. Dann aber erinnern schon wieder das durch dichten Trauerflor schimmernde Licht der Bogenlampen auf der Straße, 197 die Flammen auf den Flambeaux, die sich zum Himmel hinauf kecken, daß der tote Kaiser es ist, dem das Leben zum letztenmale Alles bietet, was es an Pracht und Prunk besitzt. Halblaut kommandieren die Offi¬ ziere: Rechts schaut! Die Menge fällt andächtig in die Knie, schlägt das Kreuz und tritt ehrfürchtig zurück. Im vollen Ornate folgt die ganze Geistlichkeit dem Sarge. Reiter in feldgrauer Adjustierung beschließen den Zug, düster an Farbe, und geben dem Trauerzuge den traurigen Ausklang. An schwarzen webenden Fah¬ nen vorbei, den schwarzen Wimpeln der Häuser entlag, zieht der Zug den lan¬ gen, von tausenden und abertausenden Menschen besetzten Ring entlang, bis zum Kriegsministerium. Die Burgwache tritt ins Gewehr, zum letztenmale schallt das „Gewehr heraus!“ und ohne Trommel¬ wirbel und ohne Spiel tritt die Wache ins Gewehr und nimmt zum letztenmale Abschied von ihrem obersten Kriegs¬ herrn. Und wieder an tausenden und tau¬ senden von Menschen vorbei, schwenkt der Zug über den Aspernplatz auf den Franz¬ Josefs=Kai, durch die Roten=Turmstraße zum Platze vor dem Stefansdome. Vor dem Stephansdome, von dessen Giebel eine mächtige, schwarze Fahne weht, hat sich inzwischen die Auffahrt der Trauergäste vollzogen. Kaiser Karl mit seiner Gemahlin, Kaiserin Zita, der Deutsche Kronprinz, der König von Bul¬ garien, der König von Bayern, die Deut¬ schen Bundesfürsten, die vielen Vertreter der neutralen Staaten, die dem toten Kaiser die letzte Ehre bezeugen. Durch die weit zurückgeschlagenen Portale des Riesentores des Stephansdomes schwol¬ len mächtig die Töne der großen Orgel zu einem überwältigenden Akkord. Das düstere Schwarz, in das der Dom ge¬ kleidet war, war nur unterbrochen von tausenden kleinen, winzigen Pünktchen, von den flackernden Kerzen und Lampen, die dem Dom etwas unheimlich Hoheits¬ volles, etwas überwältigend Düsteres und

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