Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

175 ¾ Das Grab der Mutter. Von Dr. Heinrich Penn. Nachdruck verboten. und Sommer hindurch in denselben *as Pflaster der Residenz ist ein schlechten, dünnen Rock gekleidet, zu der¬ heißes, es hat viele versengt und selben Stunde, denselben Weg mit der sie sind daran zugrunde gegangen, an¬ alten Mutter ging; es war etwas un¬ dere schreiten sicher darüber weg und endlich Ergreifendes um diese Mutter mit erreichen die höchsten Stufen, heimsen den schneeweißen Haaren, welche ein al¬ Ehren und Reichtum ein in Hülle und ter, schwarzer Filzhut deckte, zu dem der Fülle. fadenscheinige schwarze Anzug paßte, der Tausende aber schleichen auch trüb¬ von dem vielen Gebrauch schon eine grün¬ selig und verkümmert über die harten liche Farbe angenommen hatte. unbarmherzigen Steinfliesen, so hart und unbarmherzig, wie all' diese unbekannten Mutter und Sohn unzertrennlich all¬ zeit, keines sichtbar ohne das andere teilnahmslosen Menschen. Es gehört viel Willenskraft und jedes dem andern unentbehrlich. Charakter, aber auch festes Gottvertrauen Glückliche Mutter glücklicher dazu, um sich durch ehrliche Arbeit aus Sohn! nichts emporzuarbeiten in der weiten Freilich wohl, was die Welt so riesigen Stadt; es bedarf eines großen eigentlich Glück nennt, dessen erfreuten Talentes und festen Glaubens an die sich die beiden nicht, im Gegenteile, Kum¬ ewige Vorsehung und an sich selbst, um mer und Sorgen hatten tiefe Furchen seinen Namen in der Metropole des gan¬ gegraben in das einst schöne Gesicht der zen Reiches bekannt zu machen, auf dem Mutter, in das noch so jugendliche Ant¬ Gebiete der Kunst, der Wissenschaft, der litz des Sohnes und die mehr als ärm¬ Literatur. liche Kleidung predigte deutlich genug Das haben wohl auch jene zwei Men¬ die Mi¬ den Kampf um die Eristenz — schenkinder erfahren, denen ich auf meinen sere des Tages — die Sorge um das Gängen durch die Straßen der Residenz tägliche Brot. begegnete, jenes etwas auffällige Paar, Jeden Tag begegnete ich diesem welches täglich mit einer fast peinlichen Paar um dieselbe Stunde, fast an der¬ Regelmäßigkeit durch gewisse Straßen selben Stelle der Straße, ich hatte mich schritt. daran gewöhnt, wie an den regelmäßigen Ein großer, junger Mann mit unge¬ Schlag der Uhr, wie an etwas, dessen wöhnlich langem Haar und blondem man nicht mehr entraten kann. Vollbarte, das Gesicht bleich, den Stem¬ Plötzlich vermißte ich Mutter und pel der Entbehrungen tragend, an seinem Sohn, sie gingen mir sofort ab, es fehlte Arme eine alte Frau, fast so groß wie mir etwas und es war mir förmlich un¬ der Mann, der ihr Sohn ist, aber ge¬ behaglich, wenn ich an jene Stelle kam, beugt von der Last der Jahre und halb wo ich sonst das gewohnte Paar mit den erblindet. bleichen und doch so braven Gesichtern Es war etwas eigentümlich Rühren¬ gesehen. des um den jungen Mann, der Winter

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