Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

dort quartierte sie sich ein, schwach und krank, wie sie war. Sie lebte von dem, was der Wald bot, von Beeren und Schwämmen und dergleichen und an Holz und Reisig, um sich an einem Feuer zu erwärmen, fehlte es natürlich nie. So fand sie das Stum¬ merl und sie war nicht mehr allein, der Arme nicht mehr einsam im Walde. Die Dirne hieß Lisi und nannte ihn Sepp. Das Elend hatte sie zusammengebracht und die Liebe ihre Herzen erwärmt, daß sie das Elend und die Welt um sich vergaßen. Das hat der liebe Gott so gütig eingerichtet, daß auch der Aermste und Elendste ein Herz findet, das an dem seinen schlägt und für das er lebt. Von dieser Zeit an hatte der „Reh¬ hübel“ viel von seinem Zauber für das Stummerl verloren, und zum „Schuß mit dem Haselstecken kam es nicht mehr, das litt Lisi nicht und sie hatte ihn über das Unsinnige desselben belehrt. Aber etwas anderes kam nur zu bald, etwas recht Tieftrauriges. Lisi wurde immer schwächer und kränker, die ehr¬ lichen blauen Augen lagen tief in den Höhlen, das Gesicht zeigte Totenblässe war so entsetzlich schmal, daß es schier verschwand unter dem dichten Haar. Die Lippen waren farblos, fast weiß und es war kein Tropfen Blutes mehr in dem abgezehrten Körper. Woher auch? Elend und Not, Mangel, Kälte und jeg¬ liche Entbehrung hatten den schwachen Leib endlich ganz aufgerieben und eines Tages, als das Stummerl die Dirne im Walde nicht fand und besorgt über den Berg in die Hütte eilte, da lag sie dort auf der Streu, kalt und tot und doch mit einem Lächeln auf dem farblosen Munde, als wär' es der Abschiedsgruß für ihren Sepp. Armes Stummerl, was hast du da¬ mals gelitten! Da ging wohl dein gan¬ zes Herz in Stücke, unheilbar für immer. Und du wolltest dir den Kopf an der Rieseneiche zerschmettern, unter der du so oft mit ihr gesessen und in deren Rinde 163 du die Namen Lisi und Sepp eingeschnit¬ ten und zwei Herzen dazu. Aber etwas hielt das arme Stum¬ merl doch vom Selbstmord ab. Der Arme mußte ja Lisi begraben und ihr Grab bewachen. Von dem Friedhof im Dorf wollte er nichts wissen, noch von den Menschen da unten. Hatten sie sich ge¬ kümmert um ihn, um Lisi, als sie noch lebte? Sollten sie jetzt die Tote mit rauhen Händen anfassen, unter Schmäh¬ worten auf einen Karren werfen und die „Betteldirne“, die „Vagabundin“ viel¬ leicht irgendwo einscharren wie einen toten Hund? — Nein, sie sollten die Menschen nicht berühren mit ihren rauhen Händen. Und so grub er ein Grab dort unter der hundertjährigen Eiche, holte die Leiche aus der Hütte, trug die nun so leichte Last vorsichtig durch den Wald und bettete sie sorgsam in die Grube. O, wieviele heiße Tränen weinte er über sein totes, kaltes Liebchen, mit dem er ja Alles verloren hatte im Leben Alles. Und die Vöglein mußten den armen, schluchzenden Mann da unten verstehen, sie kamen von allen Seiten herbei und etzten sich auf die Zweige der Eiche und sangen so traurig wie nie zuvor. Und zwei Häslein guckten hinter dem Stamm neugierig hervor, und dort sah ein scheues Reh aus dem Busch mit so trau¬ rigen weinenden Augen, als hätte e soeben das Blei des Jägers getroffen. Das Stummerl aber legte, nach einem letzten Kuß, die Erde auf das schmale Gesicht Lisis, auf den abgezehrten Körper und füllte dann die Grube bis zum Rand, schnitt Moosstücke im Wald aus und belegte damit die Erde. In dem Stamm der Eiche aber, gerade unter den beiden Herzen, schnitt er ein großes Kreuz und befestigte ein kleines, schlichtes Marienbild, das er in der Hütte Lisis gefunden. Und jeden Morgen legte er einen Kranz von Waldblumen und Blät¬ terranken dorthin, wo das bleiche Gesicht Lisis in der Erde ruhte, und die Vöglein 11*

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