Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1917

nahmen, die nannten sich dann die un¬ verstandenen Frauen!“ „Sehr richtig!“ erwiderte der Kollege. „Und es lohnte nicht der Mühe, die man an das Verstehen dieser Frauen wandte!“ Franz Taubert trat unangemeldet bei Marie Wendriner ein; die Macht und Wichtigkeit des ersten Eindruckswar ihm bekannt. Marie tat einen leisen Aufschrei, er¬ rötete und stammelte: „Ach, da sind Sie ja!“ „Haben Sie mich erwartet?“ fragte er. „Nein, natürlich nicht! Wie sollte ich?“ fragte sie, sich sammelnd. Franz erzählte von seinem Erleben draußen und fragte dann, wie sie ihre Zeit verbringe. Ein stilles, schlichtes Leben, viel Arbeit, wenig und nur be¬ scheidenes Vergnügen! Aber unge¬ teilte Zufriedenheit lag all dem an¬ cheinend zu Grunde. Auch Mariens Mutter, die zugegen war, machte auf Franz den Eindruck einer guten, verständigen Frau. Er wußte es einzurichten, daß er sich mit Marie allein traf, jetzt sprach er das entscheidende Wort. Es kamen die Mi¬ nuten, die keine Frau während ihres Lebens vergißt. Den Rest des Urlaubs verlebte Franz Taubert, indem er mit seiner Braut über Gegenwart und Zukunft sprach. „Der neue Geist, sagte er einmal, „der durch einen großen Teil unseres Vol¬ kes geht, hat auch mich ergriffen. Frü¬ her die eigensüchtige Berechnung der Vorsicht, jetzt ein sich für's Große, Ganze S B 429 opfernde Zug. Man wird es inne, daß nicht Titel und Mammon den Ton an¬ geben dürfen, daß vielmehr die Persön¬ lichkeit den Wert gibt. Das hat so man¬ cher erst draußen einsehen gelernt.“ Als Franz Taubert auf dem Bahn¬ hofe von seiner Braut Abschied nahm sagte er noch: „Nun weiß ich doch je¬ mand, an den ich denke, für denich lebe und der auch für mich da ist!“ Er hatte ein Recht so zu sprechen, Marie fühlte sich durch ihre Brautschaft hoch beglückt, und ein Gefühl des Dankes durchdrang sie und der feste Vorsatz, ihrem künftigen Gatten das Leben nach all ihren Kräften zu erleich¬ tern und zu verschönern. Franz Taubert war in den Schü¬ tzengraben zurückgekehrt. Jetzt gehörte auch er zu denen, die ihrer fernen Lie¬ ben in der Heimat still und innig ge¬ dachten. Eines Tages sprach er sich mit einem Kameraden aus, der sich ebenfalls un¬ verheiratet den mittleren Jahren nä¬ herte. „Ich habe mich verlobt,“ sagte er. „Der Wert des Lebens liegt doch nicht dort, wo ihn manche von uns ge¬ sucht haben. Neuerdings hat sich mein Blick geschärft, ich finde, es geht ein Zug der Verjüngung durch unser Volk.“ „Auch ich sehe,“ erwiderte der an¬ dere, „daß jetzt die Mehrzahl der Män¬ ner bereit ist, Familien zu gründen. Die Lücken, die der männermordende Krieg gerissen, werden ausgefüllt werden.“ „Ja, Arbeit und Brot ist da für alle, rief Franz, „und unser größeres Oester¬ reich wird nach dieser Läuterung ein neues, zukunftsfrohes Geschlecht sehen!“ A S

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