Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1916

74 um alsbald wieder zusammenzuknicken „Tja, — das verstehst du eben nicht.“ Ueber diese angeregte Unterhaltung hatte man versäumt, den Vorgängen Beachtung zu schenken, die sich mitt¬ lerweile am nordwestlichen Himmel voll¬ zogen hatten. Dort war tatsächlich eine dicke Wolkenwand heraufgezogen, und schon begannen die ersten Tropfen zu fallen. „Hermine, ich glaube, es regnet, meinte der Medizinalrat, der den ersten Gruß von oben auf die Nasenspitze er¬ halten hatte. „Siehst du, Eduard, ich habe 8 es doch gleich gesagt! Du natürlich ...“ Frau Hermine hielt es für geraten die Fortsetzung ihres peremptorischen Monologs für eine gelegenere Zeit auf¬ zusparen, denn es begann bereits leb¬ hafter zu regnen. Für das nun folgende Bild be¬ dauert der Verfasser ohne Mithilfe des Photographen eine annähernd der Wahrheit entsprechende Schilderung in Worten nicht geben zu können. Frau et¬ Hermine schürzte ihre Kleider zu was mehr als angemessener Höhe, ihr Gatte spannte den Regenschirm auf, und nun ging es in einem bei 220 bezw 180 Pfund Bruttogewicht eben mög¬ lichen Schnelltempo über eine Distanz von 50 Metern dem am Ende einer mäßigen Landzunge liegenden Strand¬ wächterhaus entgegen. Dort saß der alte Jochen Knaak in der offenen Tür; rauchte seine „Piep“ und ergötzte sich im stillen an dem le¬ benden Genrebildchen, das die beiden vor dem Regen flüchtenden Landratten bo¬ ten. Als diese endlich auf Hörweite herangekommen waren, lud er sie zun Untertreten ein, was sich alsbald in einer jedes Dankeswort abschnürenden Atemlosigkeit vollzog. Ohne große Förmlichkeit nahm der alte Jochen die Ankömmlinge auf und meinte nur: „Laten Sei man good sien, dat duert nech all lang. Und richtig: nach einer knappen halben Stunde huschte der erste Sonnenstrahl bereits wieder über die Düne von Hela und die Danzi¬ ger Bucht. In dieser Zeit hatten auch Medizinalrats ihr physisches Gleichge wicht wiedergefunden und begannen zum Aufbruch zu rüsten. Da fiel Frau Hermines Blick auf das inmitten der Kabine montierte Fern¬ rohr, das durch eine Oeffnung in der Seitenwand des Häuschens ins Freie ragte. Mit begreiflicher Neugier trat sie an das Teleskop und fragte, ob man damit denn wirklich so weit in die hohe See schauen könne. „Dat wull 'ck meinen,“ grinste Jo¬ chen Knaak, „dormit können Sei de Krawwen up Hela tanzen seih'n!" Und er lachte über seinen Witz, daß die Bude wackelte. Dabei trat er an das Fernrohr, schraubte ein wenig am Ap¬ parat und wandte sich dann an Frau Hermine: „So, nu kieken Sei 'mal dörch.“ Und langsam begann er das Rohr zu drehen. Weit hinter dem Leuchtfeuer von Brüsterort begann das Auge der Schauenden seine Wanderung, an Pillau vorüber und der Nehrung, und erreichte langsam die offene, in der Gewitternachwirkung unruhig wo¬ gende See. Es war ein unbeschreiblich schönes Bild, und alle Augenblicke hörte man die Medizinalrätin ein „reizend wundervoll — entzückend!“ ausrufen. So war sie bereits zur Landspitze von Hela gekommen, als Frau Hermine plötzlich mit beiden Händen das Rohr umklam¬ merte. — Ach, wie köstlich „Ha—alt! sieh nur, Eduard, ein Pärchen in einem Strand ... in.. einem Strand¬ kor ... be. . J — i ja, ist denn das möglich?“ Frau Hermine holte ihr Taschentuch aus dem Pompadour und wischte damit nacheinander über Ob¬ jektiv uund die eigenen Augen. „Da soll doch gleich ... „Laß mich,“ tönte es rauh zurück. „So eine Frechheit, — so ein kecker Patron — da — siehste, Eduard, nu hat er sie geküßt!“ Aufgelöst vor Erre¬

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