Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1916

68 Gesetzbuch, das vor ihm am Tische lag; augenscheinlich sehr erregt, denn sein forschender Blick streifte wiederholt die große Schar der Angeklagten. „Euer Vörschlag, Herr Abt, scheint mir das beste,“ sagte er halblaut zu diesem. „Es geht nicht an, diese ver¬ irrten Schafe so allgemein zu verdam¬ men. Daher, hochwürdiger Herr, will ich ein Urteil fällen, mit dem Kirche und Staat zufrieden sein können an jenen dort soll es sein, ob dieses Urteil streng und milde ist — sie wer den über ihr Geschick selber richten können!“ Wieder trat eine qualvolle Pause aller Augen hafteten sich auf den ein — Blut= und Bannrichter, der wieder in dem Gesetzbuch hastig blätterte und las. Endlich erhob er sich, das taten auch alle andern und die lebhafte Neugier malte sich auf allen Gesichtern. Man drängte sich so nah als möglich hinzu, um ja kein Wort zu verlieren von dem, was der Neudlinger jetzt sprechen würde. Richter, Adelige, Bürger und Wal¬ denser erkannten den ungeheuren Ernst dieses Augenblickes und die letzteren blickten sich ängstlich und zaghaft an das Schicksal all dieser hunderte lag auf der Zunge eines Mannes; wie wird das Urteil lauten? Der Blut= und Bannrichter ent¬ blößte jetzt das Haupt und sein Ge¬ folge, sowie die Angeklagten und die Männer außerhalb des Schrankens ta¬ ten das gleiche. „Im Namen unseres allergnädigsten Herrn Herzogs Albrecht IV!“ sprach der Blut= und Bannrichter nun mit kla¬ rer Stimme. „Gerechtigkeit ist die Pflicht des Richters und wir wollen richten nach Recht und Gesetz, und so sprechen wir es aus, daß der Waldenser Lehre Ketzerei und Hochverrat bedeutet und daß alle Anhänger dieser Lehre dem Feuertode verfallen sind!“ Ein mehrhundertstimmiger Wehschrei durchzitterte die Luft und viele Walden ser sanken schluchzend und händeringend in die Knie. „Enade ist aber das schönste Vorrecht des Fürsten,“ fuhr der Blut= und Bannrichter fort, „und Gnade wird geboten den verirrten Menschen, die auf den rechten Weg zurückkehren, die Kirche achten und ihre Lehre be¬ folgen und die zu den Gesetzen unseres Gemeinwesens sich wieder bekennen. Sie sollen frei herumziehen und keiner soll ihnen Schaden tun an Leib und Leben, nur sollen sie öffentlich Buße tun und Zeit ihres Lebens ein Kreuz an ihren Kleidern tragen, damit man die Guten von den ehemals Bösen unterscheiden könne! So geschehe es!“ „Stadtrichter,“ wandte sich der Wald¬ bote an diesen, „sondert die Spreu vom Weizen heute noch. Die Reuigen kenn¬ zeichnet mit dem Kreuz, die andern sol¬ len morgen Vormittag, am Todestag des Herrn, dessen so erhabene Wei sung: „Gebet Gott was Gottes und dem Kaiser was des Kaisers ist,“ sie so falsch ausgelegt haben, durch Feuer vom Leben zum Tode gebracht werden! Hie¬ mit erkläre ich das Blut= und Bann¬ gericht für geschlossen! XII. Als der Waldbote dieses harte Urteil gesprochen, gab sich Entsetzen auf aller Mienen kund. Die Waldenser standen mit todesbleichen Mienen und zucken¬ den Lippen da, weil sie genau wu߬ ten, daß es gegen das Urteil des Wald¬ boten keine Berufung gab, eine solche an den Herzog auch schwerlich gefruchtet hätte. Es war eben eine rauhe Zeit und rauhe Zeiten fordern rauhe Sitten und Staatsverbrecher — und als solche schie¬ nen die Waldenser in erster Linie betrach¬ tet zu werden, wurden damals nicht * geschont.) *) In Ungarn gibt es heute eine Sekte, welche den Waldensern in vielen ähnelt und auch so vom Staate behandelt wird, freilich werden sie nicht verbrannt: Di „Nazarener“ Sie halten alle Menschen für gleich, sind fleißig und tätig, sonst brave Staatsbürger, verweigern aber das Waffentragen und erdulden oft jahrelange Kerker¬

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