Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1915

158 einander zwei Schüsse, durch welche das hohe Paar tödlich verwundet wurde. Eine Kugel war der Herzogin von der rechten Seite in die Weiche gedrungen. Die Herzogin verlor das Bewußtsein. Dem Herzog durchschlug die Kugel die der Halsschlagader. Der Attentäter, Gymnasiast Prinzip aus Gravosa, schoß aus unmittelbarer Nähe, was die unheilvolle Wirkung der beiden wohl¬ gezielten Schüsse erklärt. Obwohl der Landeschef den Eindruck hatte, daß die nichts geschehen sei, wollte er Fahrt durch die Stadt unter keinen Um¬ ständen fortsetzen, sondern befahl dem Chauffeur, zum Konak zu fahren. Die Herzogin sank gegen ihren Gemahl und gegen den rechten Arm des Landeschefs. Dieser glaubte, daß die Herzogin in¬ folge eines Nervenschocks einen Ohn¬ machtsanfall erlitten habe. Der Lan¬ deschef wurde in dieser Meinung noch bestärkt, als er sah, daß der Erz¬ herzog und die Herzogin leise einige Worte miteinander wechselten. Erst als der Landeschef, der den ortsunkundi¬ gen Chauffeur dirigieren mußte, sich den hohen Herrschaften wieder zukehrte, beterkte er im offenen Munde des noch immer aufrechtsitzenden Erzherzogs Blut. Als das Automobil vor dem Konak hielt, war die Herzogin voll¬ tändig bewußtlos. Als die Herzogin aus dem Automobil gehoben wurde. sank auch der Erzherzog nieder. Aerzt¬ liche Hilfe war sofort zur Stelle, lei¬ der vergeblich. Beim Erzherzog wurde nach ungefähr einer Viertelstunde der Eintritt des Todes festgestellt. We¬ nige Minuten später starb die Herzogin, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Die Leichen wurden im Konak auf¬ gebahrt. In den ersten Nachmittagsstunden verbreitete sich die erschütternde Nach¬ richt vom Attentate in der ganzen Mon¬ archie und wurde alsbald durch Ertra¬ blätter bekannt gemacht. Ueberall, wo Festlichkeiten stattfanden, wurden die¬ selben sofort abgebrochen. Allgemein herrschte die größte Bestürzung. Die Meldung über das Attentat traf mittags in der Kaiservilla in Bad Ischl ein. Generaladjutant Graf Paar be¬ gab sich zum Kaiser in das Arbeits¬ kabinett, um ihn von dem Unglück in Kenntnis zu setzen. Tief erschüttert nahm der Kaiser die Meldung ent¬ gegen. Nach einer längeren Pause fand der Monarch die ersten zweifelnden Worte: „Ist es möglich?!“ worauf er hinzufügte: „Mir bleibt nichts er¬ spart!“ Er faßte sich jedoch und gab Befehl, alles für die sofortige Ab¬ reise nach Wien vorzukehren. Er nahm entgegen der sonstigen Einteilung am Bad Ischler Hoflager das Diner allein zu sich. Um 8 Uhr abends begab sich der Kaiser zur Ruhe. Am nächsten Tag wohnte der Monarch um 5 Uhr mor¬ gens in der Schloßkapelle einer vom Hofburgpfarrer Prälaten Seydl gele¬ senen stillen Messe bei. Er verließ einige Minuten vor 6 Uhr die kaiser¬ liche Villa im geschlossenen Wagen mit dem Generaladjutanten Grafen Paar und begab sich zum Bahnhofe, worauf die Abreise nach Wien erfolgte. Trotz der frühen Morgenstunde hatte sich bei der Villa und am Bahnhofe zahlreiches Publikum eingefunden, das den Mon¬ archen ehrfurchtsvollst begrüßte. Auf dem Penzinger Bahnhofe war vor 11 Uhr der Erzherzog=Thronfol¬ ger Karl Franz Josef einge troffen, um den Kaiser zu empfan¬ gen. Der Erzherzog war sichtbar er¬ regt. Der Kaiser entstieg dem Hofwagen und schritt sofort auf den Erzherzog zu, der sich über die rechte Hand des Monarchen neigte und sie küßte. Dem Kaiser und dem jungen Erzherzog¬ Thronfolger traten Tränen in die Augen. Sie tauschten einige Worte miteinander, dann faßte der Monarch den Erzherzog unter den Arm und ver¬ ließ mit ihm den Perron, blieb dann wieder kurze Zeit stehen, sprach einige kurze Worte mit dem Erzherzog und

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