Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1915

bei, „wie lieb ich dich und deine bie¬ deren, treuen Bewohner! Wie häng' ich mit allen Fasern meines Sinn's am Leben mit euch, wie glaubt ich glücklich zu sein, hier als Gebieter diese schönen Täler der Enns und Steyr mit starkem Arm schützen zu können, auf daß erblühe und gedeihe mein Land Steier, und fröhlich bei friedlichem, em¬ sigen Schaffen mein geliebtes Volk Her¬ zog Ottokar Herrschaft preise und ihn als Vater seiner Untertanen verehre für und für! Und nun? Der Herzog seufzte tief auf und fuhr sich mit der Hand über die feuch¬ ten Augen. „Wie himmelhoch sind des Menschen Wünsche, wie groß ein vermeintlich Können und wie so schrecklich klein und nichtig ist sein Wesen! Ein böser Hauch — und der Mensch erstirbt und verdorrt wie der Ast am Baume, und ein Windstoß wirft ihn leicht und spie¬ lend von der Höhe herab, auf die er sich so fest und unantastbar hinauf versetzt geglaubt, und es ist vorbei mit aller Herrlichkeit!“ Und im Geiste dehnte Herzog Ot¬ tokar seine Betrachtungen immer weiter aus und seine Gedanken streiften wie¬ der hart an jene Grenze, über die hin¬ aus gegangen es um seine so hart er¬ kämpfte Ruhe geschehen gewesen wäre. Er hielt im Denken plötzlich inne und sah auf die Felsen hinab, die so ein¬ fach jäh und doch in so tausendfacher Mannigfaltigkeit in ihren Formen gegen die Steyr abfielen. Eine Bewegung in den entblätterten Zweigen eines uralten Hollunderge¬ büsches fesselte plötzlich seine Aufmerk¬ samkeit. Mit scharfem Blick hinsehend, erkannte Herzog Ottokar, daß diese Be¬ wegung in den von Schnee und Eis überzogenen Zweigen des Gebüsches von einem Tiere hervorgebracht wurde, das sich bemühte, aus dem verschlungenen Geäst herauszukommen, in welchem es wahrscheinlich während der Nacht Un¬ 49. terschlupf gesucht hatte, und zu sei¬ nem Erstaunen gewahrte der Herzog, daß es ein Rabe war, der sein schützen¬ des Obdach verließ, jedenfalls, weil der innere Trieb ihn zu irgend einer Tätig¬ keit zwang. Das Erstaunen des Herzogs war sehr gerechtfertigt, denn das Tier war alt recht alt, wie Ottokar erkannte, hinkte es und zog den rechten, sehr zausigen Flügel fast am Boden nach und seine vorsichtigen und doch so unbeholfenen Bewegungen ließen bald deutlich erken¬ nen, daß der Vogel zu all seinen Ge¬ brechen, mit denen er sich behaftet zeigte, auch noch blind war. Der Herzog sah fast atemlos auf die Bewegungen des Tieres, das sich augenscheinlich bemühte, durch Tasten und Suchen etwas Nahrung zu finden, und je länger er dem Tiere zusah, eine desto größere innere Bewegung bemäch¬ tigte sich des Herzogs, dessen Mienen tiefes Mitgefühl und ein seltenes Ge¬ misch von Verständnis und Nachdenklich¬ keit zeigten. Diese wechselnden Emp¬ findungen im Innern des Herzogs schie¬ nen sich plötzlich abzuklären, denn auf seinem Antlitze zeigte sich bald darauf der Ausdruck von fester Entschlossenheit, gepaart mit tiefem, inneren Frieden, er sah mit dankbarem Blick gegen den Himmel auf und sagte laut und ver¬ nehmlich zu sich selber: „Dieses arme Tier! Es ist viel elender dran als ich, denn es ist alt und blind und niemand pflegt es, und doch kämpft es um die Verlängerung seines Lebens! Ich danke dir, Herr des Himmels, daß du mich das Elend auch anderer deiner Geschöpfe sehen ließest und daß du mir gezeigt hast, wie standhaft die Leiden, die du in deinem unerforschlichen Ratschlusse über uns, deine Kreaturen, verhängst, er¬ tragen werden können! Das Beispiel dieses Tieres soll mir allzeit in mei¬ nem Leben vor Augen schweben — ich bin aussätzig, aber sonst gesund und ich habe Pflichten — gegen mich 11

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2