Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1915

40 ihrem schweren Berufe, der oft durch Widerwärtigkeiten der mannigfachsten Art zu einem dornenvollen Wege um¬ gestaltet werde. „Seine Herrscherpflichten unter al¬ len Umständen erfüllen, auch wenn Neid, Mißgunst, Unverständnis oder gar 20 Krankheiten des Körpers sich entgegen¬ stellten, sei die hehrste und erhabenste Pflicht eines Fürsten,“ sagte der Abt, „und im Erstreben und Erreichen eines Zieles skönnen die heiligen drei Kö¬ nige als Muster für alle Nachwelt gelten.“ Der Orient, heute durch den Islam seines christlichen Charakters entkleidet, habe leuchtende Beispiele von Entsa¬ gung auf dem Throne und von Selbst¬ verleugnung und Charakterstärke gar viele aufzuweisen, und wie schwer es einem armen Fürsten oft werden könne, seinen Pflichten als Regent und somit als Vater seines Volkes nachzukommen, zeige das Beispiel eines arabischen Herr¬ schers, der anfangs des zweiten Jahr¬ hunderts nach Christi lebte.“ Der Abt schöpfte tief Atem und machte eine kleine Pause und die in die Zustände am Hofe zu Steyr eingeweih¬ ten edlen Herren sahen einander viel¬ sagend an: Dieser arabische Fürst, von dem der Abt jetzt sprechen wollte, sollte sein Schicksal einige Aehnlichkeit haben mit jenem des Landesherrn in Steyr? Und inwieweit? Und die edlen Herren blickten un¬ willig nach rückwärts, wo ein Geräusch entstanden war, das ihnen die Rede des Abtes verkümmern konnte, doch der Prälat wartete wenige Augenblicke, bis abermals tiefe Stille eingetreten war, und fuhr dann mit leise erzitternder Stimme in seiner Predigt fort — nein, nicht in seiner Predigt, denn das war eine Erzählung der Schicksale eines un¬ glücklichen Fürsten, schlicht und einfach in der Form, ohne hochgeschraubte Mittel, um zu packen, und doch so zu Herzen gehend, gemütbewegend, in der meisterhaften Vortragsweise, und dem tiefen Gefühlund wahrhaften Mitempfinden, das sich in den Worten, in den Blicken und den Geberden des Abtes aussprach, dessen bleiches Antlitz sich im Laufe seiner Rede vor innerer Erregung tief rötete, deren äußerliche Zeichen aber in der lebhaften Anteilnahme der ganzen Ge¬ stalt des Prälaten an seinen Worten vollkommen verschwand. „Dieser Fürst,“ fuhr der Abt un¬ gefähr so fort, denn der Wortlaut die ser Rede ist mit den Büchern, in denen sie aufgezeichnet war, bei Auf¬ hebung des Klosters Garsten verloren gegangen, „war jung, nicht allzumäch¬ tig, aber geehrt von seinen Untertanen, geachtet von den erhabenen Monarchen weit in die Lande hinaus, und seine Jugend, seine Bildung, seine Weis¬ heit und gerader und frommer Sinn berechtigten sein Volk dazu, in ihm einen Regenerator seines Landes zu erblicken, das der Oberlehensherr des¬ selben, der König, wenig Jahre nach Antritt der Regierung des jungen Fürsten durch Verleihung von wichti¬ gen Privilegien ausgezeichnet hatte. Der junge Fürst, der bereits mannig¬ fache Proben der erhabenen Auffassung seiner Regentenpflichten gegeben, stand dazumal allein auf der Welt und hatte durch Schwert und Krankheit seine Fa¬ milienmitglieder dahinsterben sehen, ein Schicksal, wie es auch in den christ¬ lichen Zeiten des Orients leider nicht zu den Seltenheiten gehörte. Nachdem sein Reich auf feste Grundlagen ge¬ bracht war, begann der Fürst zu kränkeln und lange wußte niemand, was dem Fürsten fehlte. Im Orient gibt es eine schreckliche Krankheit, sie überfällt den Menschen plötzlich und Jahre vergehen, ehe selbst der erfah¬ renste Arzt diesen Würgengel des To¬ des erkennt: den Aussatz. Der junge *) Wohl eine Anspielung darauf, daß Herzog Otto¬ kar VIII. am 30. Mai 1180 auf dem Fürstentage zu Regensburg mit der Steiermark belehnt wurde und den Herzogtitel, den er wohl schon früher führte, jetzt vom Kaiser verliehen erhielt

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