Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

120 sen; beides auf dem Exerzierplatze in Steinfeld. Es ist auch bereits seit 14 Tagen im Laveran=Gastgarten in Vo¬ gelsang ein Larboratorium errichtet, wo 10.000 scharfe Patronen für die hies. Nationalgarde verfertigt werden. Seit 1. Oktober ist auch eine ständige Hauptwache im Gewerkschafts¬ gebäude am Stadtplatze. Am 28. wurde die große Glocke eines erlittenen unscheinbaren Sprunges wegen vom Stadtpfarrturm zum Behufe der Umgießung herabgelassen. Sie wiegt 52 Zentner. Am 31. Oktober ließen sich 9 Stey¬ rer Radikale verleiten, nach Linz zu fahren, um von den Militär= und Na¬ tionalgarde=Kommandanten die Auf¬ rufung des Landsturmes zu er¬ wirken. Kirchliche Bittprozessionen wegen Abwendung des auf allen Seiten dro¬ henden und bereits ausgebrochenen Bür¬ gerkrieges. Wien ist seit 23. Oktober von ca 80.000 Mann Truppen eng zerniert, im Innern verbarrikadiert, und an allen Linien wird gekämpft. Am 28. wurden die Vorstädte Leopoldstadt und Land¬ straße usw. und am 31. das Burgtor und somit die Stadt erstürmt; hier¬ auf die ganze Stadt in Belagerungs¬ zustand erklärt und entwaffnet, wor¬ nach die Hinrichtungen begannen. Am 3. November brach in Lemberg der Aufstand aus, die Stadt wurde bom¬ bardiert, in Belagerungszustand er¬ klärt und die Universitäts=Aula zusam¬ mengeschossen. So hätten wir denn nun die An¬ archie und Studentenherrschaft wenig¬ stens vor der Hand los der Him¬ mel bewahre uns aber jetzt vor dem anderen Extrem, nämlich einem dauern¬ den Militär=Despotismus. In Wien wurden im Laufe des November 10 standrechtliche Todesur¬ teile mit Pulver und Blei vollzogen. Am Ende des Monats November wurde hier das am Schnallentor ge¬ standene sogenannte Messererkreuz in die Mitte des bereits planierten und mit Obstbäumen wieder besetzten Wie¬ serfeldplatzes versetzt. Ein wahrer, aber trauriger Jur ist die, schon seit Monaten dauernde und jetzt, anfangs Dezember, bereits auf dem Gipfel gediehene Geldklemme. Fast alles Silber, ja sogar die meiste Scheidemünze, ist verschwunden, es gibt nichts als Banknoten, Niemand kann „herausgeben“. Um sich Scheidemünze zu verschaffen, werden in allen Kaufs¬ gewölben und Wirtshäusern die 1 fl.= C.=M.=Banknoten mir nichts dir nichts auf 2 oder 4 Teile auseinander geris¬ sen; z. B. ist man 15 kr. schuldig und gibt 1 fl.=Banknote her, so reißt sich der Kaufmann usw. blos ein Viertl herunter. Es werden auch von Geschäfts¬ leuten sogar 20 kr. und 10 kr.=Bil¬ letten ausgegeben und gegenseitig ange nommen. Am 2. Dezember hat Kaiser Ferdinand auf den Thron resig¬ niert. Erzherzog Franz Karl darauf verzichtet und dessen ältester Sohn Franz Josef I. denselben be¬ stiegen. Der Papst hat sich aus Nom ge¬ flüchtet. Die an die Stadtpfarrkirche bei der Eingangsfront angebauten und zu Holz¬ lagern verwendeten alten Festungs¬ mauern und Zwinger werden ab¬ gebrochen, und damit der dortige Teil des Stadtgrabens ausgefüllt, wodurch ein schöner Kirchenplatz entsteht. 1849. Im verflossenen Jahre schon trat in der allgemeinen Völkerbewegung die Krisis ein, und jetzt sind alle staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in * neuer Gestaltung begriffen, mit Ausnah¬ me Italiens, wo noch alles im Strudel durcheinander geht. Die Wie¬ dereroberung Ungarns geht rasch vor sich und die ganze Frage: ob und wie sich Oesterreich an Deutschland

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