Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

Hier finden bereits vom Ministe¬ rium anbefohlene, umfassende Erhebun¬ gen wegen Einführung der neuen kaiserlichen Gerichtsbehörden statt und die von der Regierung bereits unabhängig gewordene Stadtkommune müht sich in unzähligen Bürgerversamm¬ lungen ab und tappt im Finstern herum um eine neue provisorische Ge¬ meindeverwaltung aufzufinden. Alles ist provisorisch! Im September stehen auch bei uns Arbeiterunruhen in Aussicht, große, von mehreren Hundert Gesellen besuchte Versammlungen finden statt. Am 20. September war der erste militärische Kondukt bei der Na¬ tionalgarde=Schützenlegion. Der verehe lichte Kanzleipraktikant Georg Leit¬ ner ist nämlich am 18. gestorben. Die Zeiten werden immer ernster und leider droht bereits die goldene Freiheit in der Anarchie und dann zu¬ letzt unvermeidlich im militärischen Despotismus wieder unterzugehen. In Wien und Berlin fanden schon un¬ zählige Krawalle statt, und im Sitze der deutschen Einheit, in Frank¬ furt a. M., wurden am 18. von der anarchischen und republikanischen Partei zwei Reichsdeputierte ermordet und dann die Barrikaden mit Kanonen zusammen¬ geschossen. In Ungarn, welches sich schon im März faktisch von Oesterreich getrennt hat, wütet der Krieg der Ma¬ gyaren gegen die Slawen. Ueberdies tritt auch die Cholera wieder in ganz Europa auf. Das ganze Untertänigkeits¬ verhältnis der Bauern ist bereits nebst Zehent, Dienst, Robott, Mortnarium und Landemium, so wie auch die ganze Patrimonial¬ Kommunal=Gerichtsbar¬ und keit durch das konstitutionelle Gesetz vom 7. September aufgehoben. Das Heer diesfälliger Beamten erwar¬ tet nun sein trauriges Los ab, und wer bei den zu errichtenden neuen pro¬ visorischen landesfürstlichen Gerichten 119 unterkommen, oder — künftig betteln gehen wird. Es ist also jetzt wirklich der, seit mehr als hundert Jahren pro¬ phezeite Herrenstaub eingetreten. Am 30. September kam endlich die Ministerial=Kommission zum ersten, und am 17. Oktober zum zwei¬ ten Male hieher. Die Kommissionen waren von allen Pflegern und Gemein¬ derichtern besucht, stürmisch und lang¬ wierig. Am 8. Oktober war im Ratssaale die Wahl des neuen, aus 30 Glie¬ dern bestehenden Gemeinderates, welcher künftig die Stadt bevormun¬ den wird. In Wien kam es am 6., 7. und 8. Oktober zu einem neuen traurigen Bürgerkriege, wobei der Kriegsminister Graf Latour ermordet und an einem Laternenpfahl aufgehängt wurde, meh¬ rere Hunderte ihr Leben verloren, und wodurch der Kaiser wieder zur Flucht bewogen wurde. Darauf nahm die Garnison außerhalb der Stadt eine feste Stellung, der Kroatengeneral Jel¬ lachich zog mit seiner Armee aus Ungarn und Fürst Windischgrätz aus Böhmen heran und zernierten die Stadt Wien, welcher wieder von al¬ len Seiten bewaffnete Nationalgarden und „Landsturm zu Hilfe eilen. Die halbe Wiener Bevölkerung ist ausge¬ wandert. Am 22. kam der Reichstagsdepu¬ tierte Kudlich welcher die Bauern¬ befreiung im Reichstage durchgesetzt hatte, von einer in Oberösterreich zur Organisierung des Landsturmes unter¬ nommenen Reise in Steyr an, wo der Sammelplatz sein sollte; allein er hat nirgends Anklang gefunden. Am 24. Oktober hat sich der neue Gemeindeausschuß hier als kon¬ * stituiert erklart. Am 25. wurde die hiesige Natio¬ nalgarde=Artillerie=Batterie mit Kugeln auf die Scheiben probiert und von der 1. Schützen=Kompag¬ nie ebenfalls auf die Scheibe geschos¬

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