Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

Türkei de facto eigentlich nur als letztes Refugium vor den Toren Konstantinopels die Tschataldscha=Linie mit ihren Befesti¬ gungen verblieben war, trat die Mediation der Großmächte ein, welche denn auch zum Friedensschluß zwischen der Türkei und dem Balkanbunde führen sollte. Eingeleitet wurden die Friedensverhandlungen eigent¬ lich durch einen zehntägigen Waffenstill¬ stand zwischen der Türkei und Bulgarien, welcher am 14. April seinen Anfang nahm und später immer wieder nach Bedarf ver¬ längert wurde. Die Botschafter der Gro߬ mächte hatten unterdessen in London Frie¬ densbedingungen entworfen, welche der dann neuerdings in London zusammen¬ getretenen zweiten Londoner Friedens¬ konferenz als Grundlage der Beratungen dienen sollten und auch dienten. Der erste Paragraph dieser Friedensbedingungen re¬ gistriert die Tatsache, daß Friede und Freundschaft zwischen den Kriegführenden wieder hergestellt sind. Der zweite Para¬ graph besagte, daß die Türkei alle Gebiete westlich der Linie Enos=Midia abtreten werde. Ein weiterer Artikel bestimmte, daß die Kriegführenden einwilligen, die Fest¬ setzung der Grenzen und des Statuts Al¬ baniens den Mächten zu überlassen. Kreta werde an Griechenland abgetreten werden. Das Schicksal der ägäischen Inseln und das Statut des Berges Athos werde von den Mächten bestimmt werden. Der sechste Artikel aber besagte, daß alle aus dem Kriege entspringenden wirtschaftlichen und finanziellen Fragen von einer eigenen Fi¬ nanzkommission in Paris geregelt werden würden. Auf Grund dieser Vorschläge kam dann auch nach wochenlangen Verhandlun¬ gen und nachdem der Widerstand der Ser¬ ben und Griechen durch eine entschiedene Stellungnahme der Botschafter, als deren Interpret Sir Edward Grey fungierte, gegen die von diesen Staaten versuchten weiteren Verzetterungen gebrochen worden war, am 30. Mai der Vorfriede von Lon¬ den zustande, welcher der Türkei von ihrem europäischen Gebiete nur das von der Linie Enos=Midia begrenzte Stück beließ. Neben der ersten und zweiten Londoner 79 Friedenskonferenz tagte in London gleich¬ zeitig die sogenannte Botschafterreunion, zu deren Aufgaben es u. a. gehört, nach¬ dem einmal die Mächte sich dahin geeinigt, dem Wunsche Österreich=Ungarns und Ita¬ liens entsprechend, Albanien selbständig zu machen, die näheren Grenzen dieses neuen Staatengebildes zu bestimmen und ein organisches Statut für dasselbe aus¬ zuarbeiten. Die südlichen Grenzen Alba¬ niens zu bestimmen und das Statut aus¬ zuarbeiten ist der Botschafterreunion bis zum Schlusse unserer Berichtsperiode nicht gelungen, dagegen hatte sie am 26. März 1913 die Nord= und Nordostgrenze Alba¬ niens zu bestimmen und das Statut aus¬ garns festgestellt und hievon die dabei zu¬ nächst interessierten Balkanstaaten, d. i. verlangte doch Serbien und Montenegro — ersteres einen Hafen an der Adria, letzteres ver¬ — aber Skutari, das es eben belagerte tändigen lassen. Der Beschluß und die Verständigung dieser beiden Staaten war aber leichter als die Durchführung des Be¬ schlusses. Serbien fügte sich wohl bezüglich des von ihm verlangten Hafens an der Adria und zog auch seine Hilfstruppen vor Sku¬ tari zurück. Aber Montenegro, das aufge¬ fordert worden war, die nunmehr unnütze Belagerung Skutaris aufzugeben, setzte trotz aller Demarchen der Großmächte und auch der besonderen Intervention Ru߬ lands die Belagerung fort und zog endlich auch, nach der Kapitulation Essad Paschas in Stadt und Festung Skutari ein, ohne sich von der Flottendemonstration der Großmächte vor Antivari und der am 10. April erklärten Blockade der in Frage kommenden montenegrinischen und eines Teiles der albanischen Küsten durch die vereinigte internationale Flotte irgendwie alterieren zu lassen. Erst als Österreich¬ Ungarn ernstlich Miene machte, auf eigene Faust zu handeln, um Skutari frei zu be¬ kommen und in Betracht eventueller kriege¬ rischer Ereignisse am 3. Mai in Bosnien und der Herzegowina den — allerdings am 15. Mai wieder aufgehobenen — Aus¬ nahmszustand proklamierte, kam König Ni¬ kolaus zur Besinnung und erklärte sich

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