72 gedrängt wurden. Doch das war nur ein Vorspiel zu dem, was sich indessen am Balkan vorbereitete. Unter direkter Mit¬ wirkung des russischen Gesandten in Bel¬ grad und mit Wissen und Unterstützung der russischen und der französischen Regie¬ rung fanden lebhafte, aber mit großem Ge¬ schick geheim gehaltene Unterhandlungen zwischen den Regierungen von Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland statt, welche die Vereinigung dieser Länder zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die „ Turkei bezweckten und wohl gleichzeitig eine Spitze auch gegen Ostereich=Ungarn rich¬ teten. Und als diese Unterhandlungen all¬ seitig zum Ziele geführt hatten, hoben sich plötzlich die Schleier, und zur großen Über¬ raschung der politischen Laienwelt, aber auch zur Bestürzung so mancher Diplo¬ matenseele, die eigentlich berufen gewesen wäre, den Schleier der Geheimnisse schon früher zu zerreißen und ihrer Regierung Kenntnis von dem, was da unten im Zuge war, zu geben, trat der aus den oben¬ erwähnten vier Balkanstaaten bestehende und im Wesen eine militärische Konvention bildente Balkanbund wie ein deus ex machina in die Erscheinung, bald auch seine Zwecke und Ziele enthüllend. Er wollte — so sagten seine Herolde — seinen „unter türkischer Herrschaft schmachtenden“ christlichen Konnationalen jene Reformen sichern, welche die Großmächte schon so oft begehrt, welche die Türkei schon so oft zu¬ gesagt, aber noch nie durchgeführt hatte, er wollte, wenn dies Ziel in Güte nicht er¬ reichbar wäre, eventuell auch mit Gewalt jene Konnationalen aus dem osmanischen Joche befreien. So predigte denn der Bal¬ kanbund einen Kreuzzug gegen die Türken und die Befreiung der christlichen Balkan¬ völker war der Schlachtruf, den die Streiter dieses Bundes in die Welt schrien. Daß dieser Schlachtruf nur ein Reklameschild, daß jener Kreuzzug eigentlich nur ein Beutezug, sollte aber klar werden, als die Bestimmungen über die gleichzeitig mit dem Balkanbund geschlossenen Teilungsverträge bekannt wurden, welche genau festsetzten, wie zwischen den Balkanstaaten die zu er¬ hoffende Beute aufgeteilt werden sollte. Daß der Balkanbund es mit seinem Pro¬ jekt ernst nahm, bewies die rasch auf das Bekanntwerden der Bildung dieses Bundes am 30. September 1912 — gleichzeitig erfolgte Mobilisierung in Serbien, Bul¬ garien und Griechenland — Montenegro hatte ja schon früher aus Anlaß seines Ein¬ falles in Berana mobilisiert. Dieser Mobi¬ lisierung folgte die Mobilisierung eines großen Teiles der türkischen Armee auf dem Fuße. Und so standen sich denn an¬ fangs Oktober 1913 der Balkanbund und die Türkei, also alle Balkanstaaten mit Ausnahme Rumäniens, in voller Kriegs¬ wehr gegenüber. Daß diese Situation, die ja leicht nicht nur zu einem Kriege zwischen den zunächst beteiligten Staaten, sondern auch zu einer allgemeinen europäischen Konflagration führen konnte, die Aufmerk¬ samkeit und Sorge der Großmächte erwecken mußte, ist klar, und so trachteten diese zu¬ nächst, die Pforte zur Erfüllung ihrer Re¬ formvorschläge zu bewegen und damit viel¬ leicht den Ausbruch der Feindseligkeiten zu verhindern und dann die Ausdehnung eventueller kriegerischer Konflikte über die Grenzen der zunächst beteiligten Staaten unmöglich zu machen. So kam es zu diplo¬ matischen Interventionen bei den Balkan¬ staaten, so tauchte zuerst das Wort vom Statusquo, das freilich — wie wir sehen werden — nur ein leeres Wort bleiben sollte, auf. Inzwischen drängten die Völker der zum Balkanbund gehörigen Staaten zu raschem Handeln. Montenegro, das be¬ reits einmal dem Ausbruche des Balkan¬ krieges präludiert hatte, brach zuerst die Beziehungen zur Türkei ab und überschritt ohne Ultimatum und ohne eigentliche Kriegserklärung bereits am 8. Oktober 1913 wieder die türkische Grenze und griff dann wieder zunächst Berana an. Damit war der Krieg zwischen der Türkei und dem Balkanbund tatsächlich ausgebrochen. Am selben Tage überreichten die Vertreter Östereich=Ungarns und Rußlands im Namen aller Großmächte bei den Regierun¬ gen der in Frage kommenden Balkanstaaten eine Note, worin gesagt wurde, daß die Mächte energisch jede Maßnahme mißbilli¬ gen, welche geeignet wäre, einen Friedens¬
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