Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

Jahres=Rückschau. Vom Juli 1912 bis Juli 1913. „Es liegt ein großer Friedhof drüben im Donner der Kanonen, dem Geknatter der Osten. Aus dem grauen Himmel weinen Gewehre, dem wilden Geheule fanatisierter unsichtbare Augen helle Tränen über das Scharen ihr junges Leben lassen mußten, Feld des Schreckens und der Not. Keine einen Zeitraum, in dem auch noch Pestilenz funkelnden Totenlichtlein, kein Blattgrün, und Hungersnot sich zum Kriege gesellten, keine Blumen schmücken die unendliche um das grausame Trio der Menschheits¬ Ode. Durch das kahle, von Granaten zer¬ geißeln voll zu machen! etzte Gestrüpp pfeift der kalte Wind des Und doch, wäre nicht die Tragik das späten Herbstes. Und in einem halbver¬ charakterisierende Moment für diesen Zeit¬ brannten dürren Baum hockt grinsend der raum, man könnte ihn — wenigstens was Tod mit schartiggewordener Sense. Über¬ Europa anbelangt— einen Zeitraum der all, auf dem Steinboden, im dürren Gras, Komödie der Irrungen und Verwirrungen, T blühen seine trübroten Blutrosen, und un¬ der auschungen und Enttäuschungen, der zählbare Augen, gebrochene Menschen¬ Ränke und Lügen nennen. augen, die gestern noch das Licht sahen, Sehen wir uns zuerst das sogenannte starren in namenlosem Entsetzen. Denn Konzert der Großmächte an, das bei den wer sein fleischloses Antlitz sieht, muß einander gegenüberstehenden Interessen der sterben, und sei er auch so jung wie ein beiden Hauptgruppen, des Dreibundes und Soldat, der eben erst gelernt hat, das Ge¬ der Tripelentente, bei dem allseits herr¬ wehr zu tragen .... schenden gegenseitigen Mißtrauen, mit Das sind die ergreifenden, trotz des aus seinen hunderten von ungelösten und wohl ihnen sprechenden Grauens doch herrlichen auch kaum zu lösenden Dissonanzen, zu Dichterworte, mit denen am Freitag, den einem Konzerte der zukünftigsten Zukunfts¬ 1. November 1912 Paul Busson in musik wurde, das die Menschheit bis in die einem im „Neuen Wiener Tagblatt“er¬ feinsten Nervenfäden hinein erschütterte schienenen Leitartikel der Toten gedachte, und nicht zur Ruhe kommen ließ. Als da die nach der großen, drei Tage währenden im halbasiatischen Osten die Völker auf¬ Schlacht, die zwischen der türkischen und einanderschlugen, da ward zunächst von der bulgarischen Armee in der Linie diesem Konzerte unter der Direktive Frank¬ Bunar=Hissar — Lüle=Burgas eben um reichs neben der Parole vom Desinteresse¬ Adrianopel geschlagen worden war und ment auch die Parole vom Statusquo aus¬ mit der Niederlage der Türken endete, das gegeben. Wie letztere Parole aber vom blutige Schlachtfeld bedeckten. Und diese Kapellmeister des Konzerts gemeint war, Worte wollen wir an die Spitze unserer das erwies sich sofort, als die Türkei unter diesmaligen Jahres=Rückschau setzen, sind den kombinierten Angriffen der Balkan¬ sie doch so recht das tragische Mottofür verbündeten in Europa schier zusammen¬ den von uns zu besprechenden Zeitraum, brach — da ward an die Stelle der Parole einen Zeitraum, in dem der Kriegsgott als vom Statusquo sofort die Parole der unbeschränkter Herrscherseine Orgien „Beati possidentes“ gesetzt; da ward es feierte nicht nur in Europa, sondern auch klar, daß die Parole vom Statusquo nur in Afrika, Amerika, Asien — nur das glück¬ für den Fall gedacht war, daß die Türket liche Australien meidend —in dem Hun¬ Siegerin bleiben sollte, denn dann sollte derttausende blühender Menschen unter dem nach dem ausgegebenen Motto alles schön 5

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2