Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

überlasse das Kanapee Damen und älteren Herren.“ Sie gerieten alsbald wieder auf das bei dem Riesen so beliebte Thema; der holte denn auch nicht schlecht aus und hielt einen längeren Vortrag, dem sein Freund übrigens mit Spannung folgte. „Laß mich 'mal mit der Bibel be¬ ginnen „Na, das kann gut werden!“ „Wird es auch gewiß, aber unter¬ brich mich, bitte, nicht wieder. Also in der Bibel steht, und zwar II Moses 31, 14: „So haltet meinen Sabbat! Denn er ist Euch heilig; wer ihn ent¬ heiligt, der soll des Todes sein; wer an demselben ein Werk tut, dessen Seele soll ausgetilgt werden aus ihrem Volke!“ „Ferner: „Sechs Tage sollt ihr ar¬ beiten; der siebente Tag soll euch heilig sein, ein Sabbat und eine Ruhe im Herrn; wer ein Werk an dem¬ selben tut, den soll man töten! (Da¬ selbst 35, 2). „Ich habe aus der Sonntagsfrage ein förmliches Studium gemacht und bin seitdem ein anderer Mensch ge¬ worden. Ich arbeite jetzt in der Woche viel mehr, um den Sonntag und sei¬ nen Zauber so recht genießen zu kön¬ nen. Ja, es gibt einen Sonntagszau¬ ber, das kannst du mir glauben! Sieh mal, schon die gesäuberten Straßen gewähren einen ganz anderen An¬ blick in ihrer Reinheit, ist's doch als ob die ganze Stadt ihr Feiertags¬ gewand angelegt hätte. Und dann die fröhlichen Menschen, die alle in gutem Anzuge mit sichtbarer Sonntags¬ freude im Antlitz einherwandeln! Ist 's nicht so?“ „Ja, ja, es stimmt! Also deshalb bist du so fleißig geworden? „Ja, auch den Punkt habe ich mir beim Studieren klar gemacht“. C „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“ hat der Herr gesprochen, eh bien, also strenge ich mich am Tage an, um mei¬ 59 um nen Abend, und in der Woche, zu meinen Sonntag so recht genießen können. Wie gesagt, es ist eine ganz andere Sache mit mir wie früher. „Sonntagszauber, Sonntagsfrieden, Die mich früher oft gemieden, Find' ich nun im höchsten Maß, Ach, wie sehr erfreut mich das!“ deklamierte der kleine, bewegliche Freund, der trotz der trockenen Ge¬ setzesparagraphen mit der Muße in freundschaftlichem Verhältnis lebte. Sie machten sich nun bereit, da die Hitze etwas nachzulassen begann. Es war nämlich Juni, einige Tage nach Pfingsten, und die Natur stand in ihrem schönsten Schmucke Der Große schien den Kleinen übrigens mit seinem Sonntagszauber angesteckt zu haben, denn auf dem Wege machte dieser oft genug den Freund auf schöne Blumen, Pfingst¬ rosen usw. aufmerksam. Feiertagsruhe herrschte überall umher; auf den Wiesen lag Heu, das einen kräftigen Duft verbreitete, und der Sonnenschein ließ alles in hel¬ lem Lichte erstrahlen. Bei dem etwa eine halbe Stunde entfernten Walde angekommen, lie¬ ßen sie erst ihre Blicke im Tale umher¬ schweifen und besahen mit Vergnü¬ gen die in voller Breite sich zeigende Stadt, auf deren Dächern es flim¬ merte, und in deren Fenstern es blitzte und glitzerte. „Nun sofort hinein, hinein In Poseidons Fichtenhain!“ ein rief der muntere Jurist, flink wie sich Wiesel in den Wald laufend und auf das Moos legend, ein Vorgang, welcher bei seinem großen Freunde denn doch einiger Anstrengung be¬ durfte „Da sinkt sie hin, die deutsche Eiche, Schau jeder nur, daß aus er weiche!“ deklamierte der Kleine, fuhr aber ent¬ setzt in die Höhe, als vor dem Walde ein erschütternder Hilfruf ertönte. Diesmal war der Riese aber flin¬ ker wie der Kleine, denn blitzschnell

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