Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

54 totkrank an der Lungenentzündung zu Hause und ist vom Armenarzte auf gegeben „Ruhig, ruhig, liebe Frau, ich bin und komme sofort einmal auch Arzt 7 nachsehen „Aber, Herr Doktor .. Zögernd hielt sie inne und wischte sich die Augen. „Ruhig, Frau Braun, ich komme gern, auch ohne Ihnen die Tasche zu erleichtern, abgemacht! Sie bedienen mich nun schon seit mehr wie drei Jahren und . .. doch genug, gehen Sie ruhig nach Hause, ich komme sogleich Er schrieb noch eben den Satz zu Ende und nahm dann Hut und Stock, um der nicht weit entfernt wohnenden Frau zu folgen. Er fand das Kind stöhnend und in hohem Fieber liegend. Kaum hatte er es untersucht und über vierzig Grad Hitze festgestellt, als er sagte: „Hier muß sofort geholfen werden! Was hat der Arzt verordnet?“ „Diese Medizin und alle zwei Stunden eine Ganzpackung.“ Er nahm die Medizin und goß sie halb zum Fenster hinaus, dann sagte er: „Bringen Sie mir frisches Wasser, so kalt wie möglich, zwei Handtücher und einen größeren Waschlappen wenn Sie keinen Schwamm haben!“ Die Frau beeilte sich, seinen Wün¬ schen zu willfahren. Nun legte er ein ganz nasses Handtuch dem Kranken auf die Brust und ein trockenes dar¬ über, wusch ihm Arme und Beine öfters, namentlich die Füße, die Glie¬ der, jedesmal ohne abzutrocknen unter die Decke steckend. „Es erscheint zwar grausam, das Kind nicht schlafen zu lassen, aber da¬ zu hat er später Zeit genug! Vor allen Dingen muß das überflüssige Blut aus der Lunge gezogen und so das Leben gerettet werden!“ sagte er und erneuerte selbst das Wasser öfters an der Leitung. Dieses Verfahren setzte er fort von abends acht bis nachts elf Uhr, da wußte er, daß das Kind gerettet war. Das qualvolle Stöhnen hörte auf, der Kranke sank in ruhigen Schlaf. „Das war ein Rückfall, Frau Braun, nicht wahr? „Ja, er war schon durch, heute kam aber das Fieber zurück! „Na, ich denke, es ist nun endgültig aus dem Wege geräumt. Ich komme morgen früh wieder und schaue nach dem Kleinen. Sie haben doch jemand, der nach ihm sieht?“ „Gewiß, seine Schwester von bald vierzehn Jahren und die Nachbarin! „Na, vor morgen früh ist nichts nötig, und dann komme ich wieder! Gute Nacht, Frau Braun, und gute 77 Besserung. Das vom Armenarzt aufgegebene Kind war bald von ihm gerettet und dem Leben wiedergegeben, und nun trat die Zungenfertigkeit der Frau Braun in Tätigkeit. Bei ihrem aus¬ gedehnten Kundenkreis warb sie un¬ verdrossen für „ihren Doktor“, der schon nach einigen Tagen einen Schul¬ kameraden ihres ersten kleinen Pa¬ tienten vor der bereits angesetzten Operation wegen Blinddarmentzün¬ dung bewahrte. Der Kreis der Patienten, die seine Behandlung in Anspruch nahmen, vergrößerte sich zusehends, und noch vor Ablauf eines Jahres konnte er mit seinen Einnahmen und seinen Aussichten für die Zukunft vollauf zufrieden sein, da auch seine Fach¬ schriftstellerei blühte. Und welchem Umstande hatte er den so lange ver¬ zögerten guten Beginn seiner Praxis zu verdanken? Einer in gütiger Ab¬ sicht erzeigten Wohltat, die hundert¬ fältige Früchte trug! Frau Braun hatte kräftig die Re¬ klametrommel gerührt und nicht mit schlechtem Erfolge. Ohne Reklame geht's eben beim besten Willen nicht! So hatte er schließlich doch noch, als er es fast nicht mehr hoffte, festen Fuß gefaßt.

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