Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

42 bereits das Seminar besuchte und bereits Lehrerin werden sollte. Hätte aber die Tante, die Schwester der ver¬ storbenen Frau, nicht den größten Teil der Kosten getragen, dann wäre eine solche Ausbildung unmöglich ge¬ wesen. Die Tante war seit langen Jahren Lehrerin in derselben Stadt und tat sehr viel an ihren Ver¬ wandten, fast mehr als sie konnte, aber sie bot auch so ein Beispiel der Selbstlosigkeit, wie es nur noch selten zu finden, da diese Art Ware nicht mehr recht gangbar ist. Die Durchführung des Planes der Erziehung wäre trotz allem aber viel¬ leicht dennoch nicht möglich gewesen, wenn die Familie nicht im Besitze des kleinen Hauses mit Garten gewesen wäre. Dieses hatte Herr Mehlhaupt nach eingetretener Pensionierung ge¬ erbt und alsbald bezogen. Es umfaßte unten drei, eigentlich zweieinhalb, und oben drei Zimmer, die zum größeren Teile nur Zimmerchen genannt wer¬ den konnten. Das beste dabei war der neunhundertsechzig Quadratmeter um¬ fassende Garten hinter dem Häuschen, der in der Breite desselben sich bis zum dahinter liegenden Bahndamm erstreckte und mit allem vorzüglich bestanden war. Dazu war vor dem Häuschen noch ein kleines, nach der Straße zu durch ein schönes Eisen¬ gitter abgeschlossenes Vorgärtchen, in welchem herrliche Rosen und schöne kleinere Blumen gezogen wurden. Oft genug blieben Vorübergehende stehen und sahen sich dieses „Schmuckkäst¬ chen“, wie es verschiedene nannten, voll Staunen an. Freilich wurden auch Vorgärtchen und Garten gar liebevoll gepflegt von Vater und Sohn, namentlich er¬ sterer verbrachte so manche Stunde darin, Bäume und Sträucher beschnei¬ dend, Unkraut jätend usw. Diesem Dorado näherten sich Vater und Sohn in eifrigem Gespräche, der erstere in ernster, ja trauriger Stim¬ mung, da der junge Mann nun bald Abschied vom Vaterhause nehmen sollte. „So willst du also wirklich deinem Plane treu bleiben und die Laufbahn eines Journalisten einschlagen? „Ja gewiß, Vater, ich habe ja, wie du weißt, schon angefragt, ob der Verlag seinem Versprechen gemäß mich nun als Volontär anstellen will. „Nun, und?“ „Die Antwort erwarte ich täglich, nein, stündlich, ich hoffe, daß sie günstig ausfällt, hat man mir doch von selbst dieses Anerbieten gemacht nach Prüfung meiner Probearbeit!“ „Ich will dir gewiß nicht entgegen sein, aber ich hatte eigentlich anderes erwartet. „O, der Beruf eines Journalisten hat ja Dornen genug, aber auch Blumen aufzuweisen. Man kann darin viel Gutes wirken!“ „Da hast du recht, vielleicht sogar darin am meisten. Nun, hoffen wir das Beste!“ Sie schellten nun an der Eingangs¬ türe, die unmittelbar darauf schon von Adele geöffnet wurde. „Ei was, schon da? „Jawohl, aber nur für drei Stun¬ den. Für den Nachmittag muß ich zurück. Aber wie hat's gegangen? „Sehr gut, was ich dir auch wünsche, Schwesterchen!“ „Danke sehr, in acht Tagen weiß auch ich Bescheid. Wir sind nun bald im letzten Stadium des Fiebers, dem hoffentlich eine volle Genesung folgt. Sie traten ein und wurden von der alten Kathrin, die schon lange Jahre bei der Familie war und die Kinder zum Teil großgezogen hatte, wort¬ reich begrüßt. Sie war eine gute Per¬ son und wußte nicht genug ihrer Freude über den schönen Erfolg Aus¬ druck zu verleihen. Sie hatten sich noch kaum nieder¬ gelassen, als der Briefträger den er¬ warteten Bescheid für Erich brachte.

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