Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

34 nichts mehr anhaben können, weil er nichts mehr an Hoffnungen hat, die ihm genommen, vernichtet werden können — er besitzt nur mehr den schwachen, hinfälligen Körper, den ermatteten Geist, die flugkraftlose Seele. horch! Der letzte Jahrestag Glockengetöne schallt durch die Luft, in der einzelne Schneeflocken langsam niederwogen. Sehr kalt ist es heute nicht, aber doch eilen die Menschen auf den nach Plätzen und in den Gassen Silvesterabend Hause, nach Hause — es ist ja festlich heute! Wer Fa¬ milie hat, sitzt daheim im traulichen Kreise, andere wollen im Gasthause oder auch bei Freunden mit Sang und Wein das alte Jahr verabschie¬ den und das neue begrüßen Vorbei an den hellen, ziemlich weit voneinander entfernten Gaslaternen eilt rasch ein mittelgroßer, mit einem dunklen, pelzverbrämten Winterrock bekleideter Herr durch die langen Gassen und kurzen, engen Gäßchen, bis er in die Annenstraße, die im feinen Viertel der kleinen Stadt G. Er betritt hier den liegt, gelangt. Flur von Nr. 27, einem hübschen — zweistöckigen Hause, und steigt die Treppe empor ins erste Stockwerk. — Die Türe, die er oben offnet, trägt eine feine, goldgeränderte Visiten¬ karte mit seinem Namen und Stand: C „Julius Zänder, Werkmeister. Er ist in der großen, weitläufigen Drahtfabrik des Herrn v. Millner, die sich eine Viertelstunde Weges außerhalb der Stadt befindet, seit drei Wochen angestellt. Der alte Werkmeister der Fabrik war vor kurzem gestorben und da er, Zänder, in der Residenz oder deren Nähe ge¬ rade keinen passenden Posten fand, so nahm er diesen an. Als er hier ankam, mutete ihn freilich die Kleinstadt nicht sonderlich an — mit ihren engen Gassen, kleinen Plätzen, den schlechten Trottoirs und der kurzen Promenade, die sich im Zentrum der Stadt befindet, aber er fand sogleich eine bequeme Wohnung und Bequemlichkeit liebte er über alles. Er öffnet die Türe, zieht den Über¬ rock aus und hängt ihn an einen Haken. Dann geht er auf dem breiten Laufteppich in ein zweites Zimmer einem kleinen Salon — und sieht mit einem behaglichen Lächeln um sich. Mit dem gleichen behaglichen Lächeln legt er seinen Stock, seinen Hut weg. Ja, wie alt ist denn der Mann eigentlich? Vorhin sah er der höchstens wie in der Mitte frei Dreißig aus, jetzt, da die Stirne ist und man den kahlen oberenTeil ieht, die gelichteten Haare darüber — jetzt eine ja bestimmt, er zählt vier= bis fünfundvierzig Jahre. Aber trotz dieses Alters hat er noch eine jugendliche Lebhaftigkeit in sich, so er wie er geht, sich bewegt. Nun geht ins danebenliegende Schlafzimmer entledigt sich der Stiefeletten, schlüpft in leichte Filzhausschuhe und kommt wieder zurück in den Salon. Er setzt sich in einen Stuhl nahe am Kamin in dem ein Feuer knistert und prasselt — stets bei seiner Nachhause¬ kunft ist dies so, ist der Salon immer chon behaglich durchwärmt und brennt auf dem Tische die große Lampe mit der Kugel von milchfar¬ benem Glase darüber, einen matten Schein über die rote Plüschdecke, die den Tisch bedeckt, das kleine, zierliche Sopha und die hohen Sesseln rings¬ um werfend. Herr Zänder ist äußerst zufrieden mit seiner Wirtin, der liebenswür¬ digen Frau Werner, verwitweten Rätin. Wie gemütlich es nachher bei ihr sein wird— sie hat ihn für den heu¬ tigen Abend zum Tee eingeladen. Jetzt aber muß sich Herr Zänder ausruhen, erwärmen, bevor er zur

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