Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

er sich fragen mußte: „Bin ich etwa chuld, daß sie so hier liegt? daran Magdalenens Schlummer wurde oft von Fieberphantasien unterbrochen und er hörte dann seinen Namen in den Tönen innigster Liebe, schmerzvoller Sehnsucht, doch erkannte sie ihn nicht, wenn er an ihr Lager trat. Langsam vergingen die Stunden der Nacht. John ließ die alte Frau, als sie müde wurde, einige Zeit auf dem Sofa im Krankenzimmer schla¬ fen. Gegen drei Uhr früh kam auch ihm der Schlaf in die Augen, er durfte ihm aber nicht nachgeben, da die alte Frau noch schlummerte. Um ich nun leichter wach zu erhalten, wollte er schreiben, denn er fürchtete, vom Lesen noch mehr schläfrig zu werden. So ging er ins Nebenzim¬ mer, um sich vom Schreibtisch das Nötige zu holen. Tinte und Feder fand er sogleich außen auf der Platte, nach Papier suchte er in einer Schub¬ ade. Und hier fand er Magdalenas Tagebuch. Schwach nur konnte er in dem ungewissen Lichte, das vom nächsten Zimmer hereindrang, den Titel lesen. Er nahm es mit ins Krankenzimmer. Daß er dies Buch eigentlich nicht besehen sollte, daran dachte er nicht— er wollte nur über die Vorgänge der letzten Tage Auf¬ schluß erhalten und darum tat er es, ohne Bedenken. Mit feucht werdenden Augen las er die Zeilen, die ihm „ Magdalenas Innere genau enthull¬ ten. Als er geendet, legte er das Buch mit einem tiefen Aufstöhnen weg, chob die Finger beider Hände krampfhaft ineinander und schaute in tiefer Reue und Demut auf die Kranke. In seiner Seele lebte der Gedanke: „Wie habe ich mich an dir versündigt, du armes Herz!“ Und seine Schuld wuchs in seinen Augen, je länger er über dieselbe 15 nachdachte. Magdalenens leidende Züge klagten ihn an und seine Liebe zu ihr wurde ihm ein strenger Richter. Wenn sie nun starb, war er nicht an ihrem Tode schuld? Er wies sogleich den Gedanken von sich. Sie durfte nicht sterben, sie mußte weiter leben für ihn, damit er ihr ihre treue, starke Liebe vergelten konnte. Die schöne Miß Karolina war für hn nichts mehr in dieser Stunde, in der er Magdalena so genau kennen lernte. Als nach Tagen Magdalena zum erstenmal mit Bewußtsein die Augen aufschlug, fand sie John an ihrem Lager stehend. Sie wollte sich auf¬ richten, er ließ es aber nicht zu. „Bist du doch wieder gekommen?“ ragte sie dann mit mattem Lächeln. Er legte sein Gesicht auf ihre still auf der Decke liegende rechte Hand und flüsterte innig: „Verzeihe mir Magda! — es war Sie lächelte noch immer ein müdes, entsagungsvolles Lächeln. C „Ich habe dir nie gezürnt, Hans! Ich war dir immer gut, auch als du nicht mehr kamst.“ Er hob jetzt den Kopf und sah fragend in ihre größer erscheinenden, umschatteten Augen. „Und du glaubst an meine Liebe, süßes, liebes Herz?“ fragte er leise. „So wie ich immer daran glaubte“, „Selbst als ich an gab sie zurück. deiner Treue zweifelte, ging mir doch der Glaube daran, daß du mich ge¬ liebt hast, nicht verloren.“ „Ich habe sehr gegen dich gefehlt! bekannte er. „Ich hielt deine Liebe für zu kalt.“ „Ja, ich weiß, wir passen nicht zu¬ sammen, und du, Lieber, kannst ja das nichts dafür! Weißt du noch Gemälde? Und unsere Ansichtdar¬ über? Sie flüsterte es sanft und traurig. Da neigte er sich rasch hinab zu ihr

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