Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

4 geiz, diese Eigenschaften vor Fremden leuchten zu lassen. Sie besaß von Haus aus ein schönes Zeichentalent, das einmal in besseren Zeiten auch gebil¬ det worden war. Später aber erst fand sie die Möglichkeit, dieses Kön¬ nen mit einer anderen Gabe zu ver¬ werten. Ein ganz außergewöhnliches Gefühl für Linie und Form wies ihr den Weg. So war sie eine Meisterin darin geworden, Modeneuheiten aus dem exzentrischen, unmöglichen Pa¬ riser Stil in zahmere, für Wien gang¬ so bare Linien zu bringen, und ihre in modifizierten Zeichnungen waren tonangebenden Ateliers gesucht. In Mariannens kleinem Garten¬ und kabinett stand der Zeichentisch, und dort waren auch die Papierrollen ver¬ das sonstige Arbeitsmaterial chte wahrt. Frau v. Mareno wün nicht, alle Leute mit den Geräten Die ihrer Tätigkeit zu überfallen. for¬ Sachen wurden gut bezahlt und Ar¬ derten nicht eine ununterbrochene beitszeit, immerhin brauchte Frau v. Mareno das tüchtige, selbständige Hausmädchen, das sie, wenn sie ein¬ mal Postarbeit bekam, völlig in Ruhe ließ. Diese perfekte Person also, um die sie so sehr beneidet wurde, stellte genau so eine Notwendigkeit vor wie der Ofen im geräumigen Vorzimmer, — durch eine nicht denn dieses war — augenfallige Abteilung ermöglicht der Schlafraum für die Köchin, weil man das Dienstbotenzimmer Ma¬ rianne eingeräumt hatte. Inge v. Mareno allein wußte, wie¬ viel Kräfte, Energie und Denkarbeit diese Lebensführung in ihr ver¬ brauchte, aber sie liebte ihren Mann, dem diese höhere Lebensform Da¬ seinsbedingung war, und vergötterte ihre Kinder, und darum kam es ihr gar nicht in den Sinn, etwas zugun sten ihrer Bequemlichkeit an den be¬ stehenden Zuständen zu ändern. Herr v. Mareno hätte sich sein Heim nicht anders vorstellen konnen, es fiel ihm gar nicht ein, darüber nachzusinnen, daß seine Kollegen mit den gleichen führten; Bezügen ein Kleineleutleben ihm von rechnen und Gelddinge waren jeher an die Nerven gegangen, und wenn seine hübsche, kleine Frau ein¬ mal den Ansatz tat, von dergleichen zu reden, hielt er sich ärgerlich die Ohren zu. So kämpfte die kleine Frau den nervenzermürbenden Kampf mit der Alltagsnot allein durch: lief früh morgens im Lodencape, den Kopf mit einem Spitzenschleier umwickelt, aus den Markt, und die Händler machten ihr kleinere Preise, weil ihr freund¬ liches Gesicht als „guter Handgriff“ galt. Wenn sie dann im eiligen Tempo heimkam, waren inzwischen Mann und Kinder ausgeflogen und jedes hatte die Spuren einer beschleunigten Toilette zurückgelassen. Das mußte meist alles sehr rasch beseitigt werden, denn die späteren Vormittagsstunden bedeuteten die wertvollsten am Zei¬ chentische. Zeitweilig erhöhte sich Frau Inges vielgestaltete Tätigkeit dann noch durch die Vorbereitungen zu den kleinen Gesellschaften, die Herr v. Ma¬ reno nicht missen konnte, weil sie ihn für etliche Stunden in die einstige Be¬ rufssphäre zurückträumen ließen. Da tand der schlanke Bahnassistent beim Pianino und sang das Bombardon¬ Lied, mit dem er schon in der Kadet¬ tenschule Furore machte, und später, wenn die Stimmung sich erhöhte, trug der dicke Hauptmann „Prinz von Ar¬ kadien=G'stanzeln“ vor, über die Frau Inge schwungvoll hinweglächelte. Die Jahre kamen und gingen — im internen Leben der Familie Mareno veränderte sich wenig. Oskar war Ar¬ chitekt geworden, Marianne Bürger¬ — und Herr v. Mareno schullehrerin bekam am Ausgang seiner Dienstzeit wahrhaftig doch noch den goldenen Kragen. Inge war noch immer die hübsche, kleine Frau v. Mareno; knapp vor den Fünfzig, war es kaum zu umge¬

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