Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

80 Kaiserlichen, bald den Revolutionären, die auch eine eigene provisorische Regierung einsetzten. Eine große, von der Regierung einberufene und am 22. Oktober 1911 er¬ öffnete Nationalversammlung sollte die verworrene Lage wieder ins richtige Geleise bringen und über die Schwierigkeiten der Situation hinweghelfen. Aber die Ver¬ sammlung beriet und die Kämpfe dauerten fort. Nachdem schon am 27. Ok¬ tober 1911 der Führer der Aufständischen in Hankau, Liuanheng, den dortigen Kon¬ suln die Mitteilung gemacht, daß er zum Präsidenten der chinesischen Republik aus¬ ersehen worden sei, nachdem sich weiters am 14. November die Mandschurei autonom erklärt und am 3. Dezember 1911 in Urga die Unabhängigkeit der Mongolei ausge¬ sprochen worden war, nachdem endlich der Prinzregent am 6. Dezember abgedankt und am 7. Dezember 1911 durch kaiserliches Edikt sogar das Abschneiden des Zopfes (in China!) gestattet worden war, wurde dann am 29. Dezember 1911 Sunyatsen ein christlicher Gelehrter und Arzt chinesi¬ scher Abstammung, der Führer der Jung¬ Chinesen und der eigentliche geistige Ur¬ heber der ganzen freiheitlichen Bewegung, in Schanghai von einer aus Vertretern von 18 Provinzen bestehenden großen repu¬ blikanischen Konstituante, nach erfolgter feierlicher Absetzung der 23. chinesischen Dynastie (Mandschu=Dynastie), einstimmig zum Präsidenten der, in Wutschang bereits am 13. Oktober 1911 proklamierten „Re¬ publik der Mitte“ ernannt. Sunyatsen nahm die auf ihn gefallene Wahl an, zog am 1. Jänner 1912 in die republikanische Hauptstadt Nanking ein, übernahm die pro¬ visorische Regierung und leistete den Eid, die Mandschus zu entthronen und den Frieden im Reiche herzustellen, sowie eine Volksregierung zu errichten. Sobald diese errichtet sein werde, werde er sein Amt niederlegen, damit zur regelrechten Prä¬ sidentenwahl geschritten werden könne. Der erste offizielle Akt der provisorischen Re¬ gierung war die Einrichtung eines neuen Kalenders, durch den der Jahresanfang auf den 1. Jänner festgelegt wurde. Nun wurde die Situation für die Mandschu¬ dynastie immer gefährlicher, die republikani¬ schen Truppen rückten bereits gegen Peking vor, schier das ganze Reich war in Aufruhr gegen die Dynastie, in Peking selbst herrschte Anarchie; da entschloß sich denn die Dynastie zur Abdankung und am 5. Februar erfolgte ein kaiserliches Edikt, welches Juanschikkai, einem Vertrauens¬ mann der Krone und umsichtigen Politiker, befahl, die Republik mit Hilfe der Repu¬ blikaner des Südens zu bilden. Am 12. Fe¬ bruar erfolgte dann die faktische Abdankung der Dynastie und die Proklamierung der Republik durch ein von der Kaiserin¬ Witwe gezeichnetes kaiserliches Edikt. In diesem Edikt verzichtete der Kaiser aber nur auf seine politischen Rechte, während der kaiserliche Titel ihm erblich erhalten bleiben sollte. Juanschikkai wurde gleich¬ zeitig mit der Bildung einer provisorischen republikanischen Regierung betraut. Dieser nahm vorerst den Titel eines „bevollmäch¬ tigten Organisators der Republik“ an Daraufhin trat Sunyatsen als provisori¬ scher Präsident der Republik China zurück und an seine Stelle wurde Juanschikkai einstimmig von allen republikanischen Gruppen zum provisorischen Präsidenten der Republik ernannt. Als Sitz der provi¬ sorischen Regierung wurde von der Na¬ tionalversammlung in Nanking Peking be¬ stimmt. Das ist in großen Zügen die Geschichte des Werdeganges der „durch kaiserliches Dekret proklamierten“ Republik China deren Präsident aber auch noch nicht im¬ stande war, dem großen Reiche den vollen Frieden zu bringen, da die Republikaner des Südens mit jenen des Nordens nicht recht harmonierten, die Anhänger der Dynastie den Kampf gegen die Republik fortsetzten und in weiten Strecken Chinas nach wie vor Unruhen herrschten, die Sol¬ dateska aber zu Meutereien neigte. Und schon stehen Japan und Rußland, Gewehr bei Fuß, bereit, eventuell aus der Situ¬ ation in China Nutzen zu ziehen — der vorbereitete Vertrag, welcher die Einflu߬ sphären der beiden Staaten im Gebiete des ehemaligen Kaiserreiches regeln soll, mag wohl einen ersten Schritt zur Auf¬ teilung des Reiches der Mitte bedeuten. * * *

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