Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

doch war's anders als zuvor. So etwas irrendes war in ihr, eine heiße Herzensangst und sie wußte nicht wo¬ vor, ein zitterndes Bangen vor etwas neuem, das sie nahen fühlte und das doch nicht Gestalt noch Namen trug. Mit jäher Bewegung hat sie sich wieder am Boden hingehockt, die Augen losreißend von ihm, dem sie nuch immer nachgestarrt. Voll Hast beginnt sie wieder, die Erdbeerbüsche von dem alten Laub zu säubern, doch plötzlich springt sie auf und läuft ins Haus hinein. Sie kann's nicht länger! Die Finger ind ihr wie verbrannt von all dem neuen, jungen Leben, das unter dem 1 toten Laub zum Lichte drängt. War' doch der Frühling erst vorüber, der sie ihrer Jugend bittern Winterfrost wie ein zweischneidig Schwert empfinden läßt. Doch der Frühling erblühte herr¬ liher von Taj zu Tag und hatte nur ein Sonnenlachen dafür, wie in ein¬ samer Kammer ein Mädchenherz, sich gegen seine Siegesherrschaft wehrte. Auf dem Berge droben war der Burg¬ graben von Veilchen blau und zum Burgberg hat es Emmi Burkhardt nach schlummerloser Nacht noch ein¬ mal hinaufgetrieben. Nicht um sich Veilchen zu pflücken. Den Dornbusch will sie noch einmal sehen, der wie das starre Leid inmitten blühender Wonne steht. Von der prangenden Fliederhecke flutet ihr der Duft in süßbetäubender Woge entgegen und steigt ihr wie ein Schwindel ins Hirn. Ihre Hände pressen sich an den Schläfen fest und ihre verhetzten Augen suchen an der Hecke die Stelle, wo der kahle Dorn¬ busch steht, in dem sie sich mit ge¬ breiteten Armen werfen möchte, um einmal statt all dem qualvoll Namen¬ losen, das ihr bei Tag und Nacht nicht Ruhe läßt, einen anderen Schmerz zu spüren, den sie mit Händen greifen, mit Augen sehen kann. 86 61 Und plötzlich sieht sie. Starrt und erbebt. Sieht im dichten Fliedergebüsch einen blondbärtigen Männerkopf, aus dem die Augen wie zwei Freuden¬ fackeln leuchten und hört eine Männer¬ timme, die ihr's entgegenruft, ent¬ gegenjubelt: „Der Schlehdornblüht! Der verdorrte Strauch ist grün von neuen Reisern. Durch die Hecke hat sich Franz Landolf seinen Weg gebahnt, steht neben ihr, die ihn noch immer wie entgeistert anstarrt, zieht sie mit sich zu der Stelle hin, wo zwischen chweren, blauen Fliedertrauben wei߬ blühend ein Schlehdornzweig sich reckt und jubelt noch einmal: „Der Dornbusch blüht! Der Früh¬ ling hat's über ihn gezwungen!" Da haben sich des Mädchens Hände von dem Manne losgerissen und aus der Herzensangst, die in ihr empor¬ schwillt gleich brausender Flut, darin sie sich versinken fühlt, kommt's ihr wie ein Rettungsschrei: „Was geht's mich an! Ich und der Frühling haben nichts mehr mit¬ einander zu schaffen. Sie will enteilen, flüchten, sich er¬ retten, für den Toten retten, dem ihrer Liebe erster Frühling geblüht, doch zwei starke Arme zwingen sie zurück und Landolf ruft: „War denn der Winter meines Wartens noch nicht lang genug? Drei Lenze hab' ich dich dem Toten gegönnt, nun fordere ich, der Lebende, dich für das Leben ein.“ Heiße Lippen haben sich auf die ihren gepreßt, sie fühlt ein lebendes Herz gegen das ihre schlagen und in einem Achzen erstirbt ihr die Kraft, die sich gegen neuen Liebesfrühling wehren will. An Franz Landolfs Schulter birgt sich das Gesicht und der Tränenstrom, der ihr hervorbricht, ist wie letzter Regenschauer auf dunk len Grabeshügel und erster Tau auf lichte Maienblüten.

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