Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

60 als gewahre er an ihr nichts anderes als nur die äußerliche Verletzung: „Ja, der Schlehdorn reißt scharfe Wunden. Gut, daß der Arzt mit seinem heilenden Pflaster gleich zur Stelle ist.“ „Der Schlehdorn —?“ Ihre Augen wandten sich dem so plötzlich Er¬ schienenen zu, doch ihre Seele war noch weit hinweg. Dann glitt ihr leerer Blick von dem Doktor zu der Stelle der Hecke hin, in die sie acht¬ los hineingegriffen und ganz langsam verzerrten sich ihre Lippen zu einem irren Lächeln „Ein Dornbusch ist's— jawohl und trägt zeitlebens keine Blüten mehr.“ Eine Stille kam. Dicht an des Mädchens Seite stehend, hatte sich auch Landolf über den vertrockneten Strauch hinabgebeugt, mit scharfen Augen spähend, ob er nicht irgendwo noch einen grünen Trieb entdecke. Er gewahrte nichts und nickte nun gleich¬ falls: „Es hat ihn übel mitgenommen. Doch will's mich dünken, als wären die Wurzeln heil geblieben. — Ja, daß die „Die Wurzeln heil Dornen sprießen. Seine Blüten sind dahin. Des Mannes Lippen öffneten sich zu raschem Wort und schlossen sich doch wieder stumm. Es war, als ringe er etwas in sich hinab. Sie beachtete es nicht, stand wartend da, daß er nun weitergehen werde. Da zog er mit leise gemurmeltem Gruß den Hut und ließ sie allein. Sie aber schlug die Hände vor's Gesicht, daß sie nicht länger am blauen Frühlingshimmel die Sonne sah. Als wieder nach Jahresfrist ein neuer Frühling kam, sah sie die Sonne nicht. Im verdunkelten Krankenzimmer lag sie an einem schleichenden Nerven¬ fieber darnieder, das sie an Grabes¬ rand gebracht. Doch sie genaß. „Nureinzig und allein dem Doktorhast du das zu danken“, jubelte die Mutter. Still blickte die Genesende vor sich hinaus. Die lange, schwere Krankheit hatte das Vergangene abgeschwächt, zu matteren Farben getönt. Sie war Leid ergeben geworden und fügte sich in ihr Geschick. Doch war kein Hoffnungsschimmer in ihrem Blick, wie sie nun dem Arzt, der an ihrem Lager stand, mit müder Gebärde die Hand hinstreckte „So muß ich Ihnen jawohl dafür danken. „Und ich nehme Ihren Dank. Nicht — ur mich, aber für das Leben, das Sie nicht lassen wollte“, hatte er ge¬ rufen und mit seiner warmen Männer¬ hand ihre kalten Finger fest um¬ schlossen. Wie deutlich das plötzlich alles wieder vor ihr steht, während sie der kraftvollen Gestalt des davonschreiten¬ den Doktors nachsieht. Und noch anderes fällt ihr ein: der und jener Abend, dem Franz Landolf im ver¬ wichenen Winter gemütlich bei den Eltern verbracht. Gemütlich auch von ihr empfunden, obwohl sie nur selten ein paar Worte in das muntere Ge¬ plauder der andern einwarf. Und ein¬ mal hatte sie gelacht. Zu etwas humoristischen, das der Doktor gesagt, zum erstenmal wieder mit leisem, frohen Ton gelacht. Die Eltern hatten's überhört, der Doktor aber hatte da¬ gesessen, als trinke er tief in sich den Ton hinein und über die Stirn war ihm ein roter Schein gehuscht, wie ein Licht, das sich von innen her ent¬ zündet. Die Nacht darauf hatte sie weinend in ihrem Bett gelegen, in Scham und Reue, als müsse sie Buße tun für dieses Lachen, zu dem ihr kein Recht mehr zustand, das wie ein Raub war an der Trauer, die ihrem Toten ge¬ bührte, dem sie in unverbrüchlicher Treue sich angelobt. Seit dem Tag war es mit der Stille vorbei, zu der sie sich mit ihrem Leid gefunden hatte. Die alte Qual ergriff auf's neue Besitz von ihr. Und

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