Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

56 seinen Anzug, seine Reinigung usw. dreht, noch einmal durch — mit dem Grübelsinne eines Forschers, der hinter alten Tatsachen noch eine versteckte neue Wahrheit wittert. Bis ein Uhr also hatte Oberleutnant von Rödel im Reglement gelesen und bald nach sechs Uhr früh war er bereits in der Kaserne. Die Kompagnie, die er vertretungsweise führte und die heute besichtigt werden sollte, war eben erst aufgestanden. Sorgenvollen Antlitzes winkte er den Feldwebel bei Seite, der auch schon auf den Beinen war, und nach den zornigen Plisseefalten auf einer Stirn zu urteilen — bereits — eine rege Tatigkeit entwickelt hatte. „Haben die Kerls sich ordentlich gewaschen, Feldwebel? Gesicht, Hals, 27 Ohren, Brust, Hände „Zu Befehl, Herr Oberleutnant.“ „Haben sie sich das Maul gespült *?“ und die Zähne geputzt „Zu Befehl. Melde aber gehorsamst, daß der Mikowiak seine Zahnbürste auch zum Gewehrputzen verwendet hat und infolgedessen „Notieren Sie: das Ferkel hat binnen vierundzwanzig Stunden eine neue Zahnbürste vorzuzeigen. Da außerdem die Reinigung des Gewehres nur mit einem Wischstrick, Lappen und feinem Werg bewirkt werden darf, kriegt der Kerl zum nächsten Fest keinen Urlaub. Sind die Leute sauber rasiert? „Zu Befehl, Herr Oberleutnant. „Und wie steht es mit der Frisur? Der Herr General legt großen Wert darauf, daß die Haare mit einer vom Augenwinkel zum oberen Rande des Ohres gezogenen Linie abschneiden Daß mir also keiner wie Anna Czillag mit 176 Zentimeter langem Riesen¬ Loreley=Haar zur Besichtigung antanzt. Verstanden? Eine geschlagene Stunde beschäftigte sich der Oberleutnant in dieser Weise mit dem äußeren Menschen seiner Leute. Als diese dann — frisch und sauber wie Ehrenjungfrauen — auf dem Flur angetreten waren, konnte er zufrieden sein. Aber er war es nicht. Wiederum winkte er sorgenvollen Antlitzes die Mutter der Kompagnie zu sich. „Soweit scheint ja alles in Ordnung, Feldwebel. Trotzdem ist mir noch so vergesserich zu Mut — als wenn wir 77 auf manches nicht geachtethätten „Herr Oberleutnant haben befohlen, an das Nationale der Leute erinnert zu werden „Danke. Ist schon gemacht. Das habe ich gestern auswendig gelernt. Meine Frau hat mich überhört — und es ging sehr schön. Nur wo der Solsky geboren ist, kann ich nicht recht behalten. Wie heißt das infame Nest?“ „Wierzchoslawice.“ „Ganz recht — Werschlachos äh, hol's der Deibel! Muß der Kerl in so einer unmöglichen Gegend zur Welt kommen. Und was ist doch der Kretsch¬ 27 mann in seinem Zivilverhältnis. „Wenn ich nicht irre, Strumpfwirker, Herr Oberleutnant.“ „Strumpf.. Herr Gott im hohen Himmelszelt, da fällt mir ein, worauf wir nicht geachtet haben! Welche von den Kerls tragen nun Socken und welche Fußlappen. Wissen Sie das, Feldwebel? Als dieser verneinte, stieß ihm der Oberleutnant die gerungenen Hände gegen die Brust. „Aber Menschenskind — das muß man doch wissen! Der Herr General hat bei der vorigen Besichtigung danach gefragt und sich sehr gewundert, daß die Kompagniechefs keine Ahnung davon gehabt haben. Erinnern Sie sich denn dessen nicht?“ 77— „Sehr wohl, aber Der Feldwebel riskierte ein leises Achselzucken der Ratlosigkeit. Er hätte dem kleinen Oberleutnant, der sich bei einen ersten Häuptlingsversuchen in geradezu rührender Weise auf die größere Erfahrung der Kompagnie¬ mutter stützte, liebend gern geholfen. Aber wie —?

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