Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

52 Finkchen sangen mit den Drosseln um die Wette in den nahen Bäumen überall sproßte, keimte, grünte es Frühjahrsjubel, Frühjahrspracht ging durch die ganze Natur. Nur Isa schien die Herrlichkeit dieses Morgens nicht zu genießen; bleich saß sie auf der Bank, einen Brief in der Hand, den sie wieder und wieder las. Es waren Gustavs Zeilen, worin er ihr artig mitteilte, daß er für die nächste Zeit durch den oben angekündigten Besuch seines Onkels und seiner Cousine ab¬ gehalten sei, sich ihr wie vordem zu widmen. Was war es, was so kalt an ihr Herz kroch, was ihr momentan jede Lebensfreude raubte? Mit Schrecken wurde sie gewahr, daß sie ihre Neigung diesem Manne geschenkt, langsam und unmerklich war es gekommen, und jetzt, wo sie ihn missen mußte, wo sie einsam war, brach es mit elementarer Gewalt hervor. Tränen verdunkelten ihre Augen, aber hastig trocknete sie dieselben, sie wollte nicht schwach sein, die paar Wochen noch ganz ihrer Gesundheit leben, um ihren Beruf dann wieder voll ausfüllen zu können. Keine Träume von Glück, die sich für sie doch nicht erfüllen würden. Sie tand seufzend auf, um langsam nach Hause zu gehen; da bei einer Biegung blieb sie wie elektrisiert stehen, indem eine dunkle Röte ihr Gesicht bedeckte. Da kam er, mit dem sich ihre Gedanken beschäftigten, neben ihm ein alter Herr und ein schönes, junges Mädchen, sehr chic und modern gekleidet. Seine Verwandten, sie waren schon ange¬ kommen. Das junge Mädchen, seine Cousine Maria, hatte erstaunt auf¬ geblickt, als sie die fremde junge Dame in solcher Befangenheit ihnen entgegen¬ kommen sah; sie blickte ihren Vetter an, in dessen Mienen sich ebenfalls eine große Verlegenheit spiegelte und der eben im Vorbeigehen artig den 57 Hut zog. „Du hast Bekannte gefunden: fragte der alte Herr. „Nur diese junge Dame, eine Lehrerin, lernte ich durch Zufall kennen“, kam es von seinen Lippen, indem er sich heftig zur Seite wandte, denn er fühlte Marias Blick auf sich gerichtet. Er wollte ein anderes Thema anschlagen, aber Maria ließ ihn nicht dazukommen und sagte, indem ie sich nach Isa umwandte: „Das Mädchen gefällt mir, bei nächster Ge¬ legenheit machst du sie mit uns bekannt, Gustav!“ Er murmelte etwas in den Bart von baldiger Abreise, aber Maria war nicht die Persönlichkeit, sich von etwas abbringen zu lassen, was sie sich in den Kopf gesetzt; es wurde abgemacht, sobald sich die Gelegenheit böte, die beiden jungen Mädchen mit¬ einander bekannt zu machen. Die Gelegenheit kam bald; im nächsten Konzert entdeckten Marias suchende Augen Isa in einer dunklen Ecke des Saales. Sie sagte es Gustav, dessen gebräuntes Gesicht um einen Schein dunkler wurde und der sich hastig umwandte. Maria sah ihn forschend an; ein eigentümlicher Zug trat in ihr Gesicht. „Bringe sie her, Gustav!“ Er holte Isa, die anfangs nicht wollte, ich aber schließlich seinen Bitten fügte. Noch acht Tage, dann waren für Isa die Ferien abgelaufen. Wie hatte sie die beiden letzten Wochen genossen mit den liebenswürdigen, guten Menschen, mit denen das Schicksal sie zusammengeführt. Eine innige Freund¬ chaft verband sie mit Maria, sie tauschten schon nach den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft das schwesterliche „Du“ miteinander. Das Schönste für sie war, daß sie Gustav alle Tage ehen konnte, ein Blick Auge in Auge, der ihr auch von seiner Seite soviel sagte, ein Wort und seine Nähe, welch eine Seligkeit für sie. Auch der alte Herr, Marias Vater, hatte sie sehr ins Herz geschlossen. Sah er doch den guten Einfluß, den sie auf sein geliebtes, verwöhntes Töchterlein ausübte; und der Einfluß war ein wahrnehmbarer. Auch Gustav machte oft die stille Beob¬ achtung, wie so ganz anders Maria ietzt war, als wie er sie vorher gekannt. So wäre sie sein Geschmack, mit dem

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