Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

50 gesellte er sich zu ihr und stellte sich vor als Doktor jur. Medem aus X. Beide führte nun der Weg hinaus ins Freie zum Frühstück. „Gnädiges Fräulein sind hier zur Kur?“ fragte er. „Ja, ich habe durch Vermittlung meines Arztes einen fünfwöchigen Ur¬ laub bekommen, nach demselben nehme ich meine Beschäftigung als Lehrerin wieder auf“ antwortete sie. „Der Lehrerinnenberuf ist ein schöner, aber ein anstrengender und erfordert viel Kraft“, sagte er, indem er einenBlick auf ihre zarte Gestalt warf. „Ja“ sagte sie, „es ist ja überhaupt für ein Mädchen nicht leicht, durchs Leben zu kommen: „Sie haben recht, gnädiges Fräulein, der Kampf ums Dasein gilt heute ebenso für die Frau wie für den Mann. Früher, in der guten, alten Zeit, heirateten mehr Mädchen wie jetzt, die Ehen werden immer seltener“, meinte er. „Und was ist daran Schuld?“ fragte Isa. „Wohl die Verhältnisse. Das Leben stellt jetzt enorme Anforderungen an den Mann, und was den Geldbeutel anbelangt, um ein armes Mädchen heiraten zu können, muß er selbst gut situiert sein oder eine einbringende Stellung haben, sonst geht es nicht, besonders wo die jungen Mädchen von heute, im allgemeinen natürlich betrachtet, viel zu viel für Luxus und Vergnügungen erzogen werden, Häus lichkeit, Familie, was gilt das heute? Nichts! Die Hauptsache ist Genuß Genuß und abermals Genuß“. Sie mußte ihm Recht geben. Unter diesen Gesprächen hatte er sie bis an ihre Haustür gebracht und mit einem: „Au Wiedersehen, morgen Früh an Brunnen“ schieden sie. Doktorjur. Gustav Meden war nicht reich, seine Praxis noch eine kleine, so daß er am wenigsten daran denken konnte, ein armes Mädchen, wie Isa es war, zu seinem Weibe zu machen so ungemein sympathisch und anziehend sie ihm erschien. War sie doch so ganz anders, wie alle jungen Mädchen einer Bekanntschaft, die das Glück ihres Lebens nur in Außerlichkeiten suchten und fanden, hier bei Isa fand er volles Erfassen des Lebens, tiefes Verstehen der Aufgaben des Lebens und er sagte sich oft im Stillen, wie glücklich der Mann einst sein müsse, der diese zarte, feine Mädchenblume sein eigen nennen würde. Es gab aber noch einen anderen Grund, warum er nie daran denken konnte, Isa einst die Seine nennen zu können, er hatte einen reichen Onkel, der ihn in seinen Studien unterstützte, dem er überhaupt sehr zu Dank verpflichtet war und dieser Onkel hatte eine Tochter, und diese Tochter, also seine Cousine, sollte er heiraten, hatte sich der Alte in den Kopf gesetzt. Die Cousine war ein schönes Mädchen, ein gutes Mädchen, aber von der Art der oben Angege benen: Vergnügen, Genuß, Putz, Flirt kamen zuerst, dann in zweiter Linic erst: Pflicht, Ernst, Arbeit. Sie war das einzigste Kind und der Abgott des Vaters, mit dem sie machen konnte was sie wollte. Gustav gab sich jetzt hier ganz und voll dem Zauber hin, den Isa auf ihn ausübte mit ihrer stillen, vornehmen Art. Sie waren täglich zusammen am Brunnen, zu Spaziergängen, im Konzert. Heute saßen sie oben im Jägerhaus beim Kaffee, wie heiter war Isa, wie glühten ihre Wangen, wie leuchteten ihre Augen er meinte, sie noch nie so hübsch ge¬ sehen zu haben. Er trug ein großes Interesse für sie im Herzen und mit dem richtigen Instinkt, der dem Manne in Herzensangelegenheiten ebenso inne wohnt wie der Frau, fühlte er auch, daß er ihr nicht gleichgültig war, ja daß ihr Herz sich dem Sonnenstrahl der Liebe geöffnet. Da kam ihm der Gedanke: Tust du Recht, ein Mädchen an dich zu fesseln, wo du weißt, daß es zu nichts führen kann? Er wurde den Gedanken nicht wieder los. Sie gingen vom Kaffeehaus nach dem Hirschensprung, bei dem Obelisk vorbei, *

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