40 „Wo komme ich hier zum Ober¬ postdirektor? „Zu wem wollen Sie?“ fragte der Beamte mit einem gewissen Nachdruck. Der Jüngling schien das verstanden zu haben — denn sein von Hitze und Aufregung gerötetes Antlitz färbte sich noch um eine Nuance tiefer, und er machte verzweifelte Anstrengungen, mit den bepackten Armen und Händen an seinen Hut zu kommen. Es war unmöglich. Dafür aber fragte er, wenn auch immer noch erregt und zappelig so doch schon etwas verbindlicher: „Ist der Herr Oberpostdirektor zu sprechen?“ — „Ach so zum Herrn Oberpost¬ direktor wollen Sie. Hm, sind Sie zur Audienz vorgemerkt bei Exzellenz? „Nein, das nicht. „Ja, dann gehen Sie nur wieder nach Hause, machen Sie eine Eingabe, in der Sie klarlegen, was Sie wünschen, und warten Sie den Bescheid ab.“ „Verehrter Herr, ich muß Seine Exzellenz sprechen, verstehen Sie ich muß! Und zwar heute noch! So¬ fort! Es handelt sich um meine Existenz, um meinen Familienfrieden, ja um meinen Verstand! Ich werde verrückt, wenn ich Seine Exzellenz nicht sprechen kann. Sie werden mich also nicht unglücklich machen, sondern mich unverzüglich zum Herrn Ober¬ postdirektor führen Ein hochgewachsener Herr mit einem Zylinder auf dem Kopf und einer braunen Aktenmappe unter dem Arm hatte inzwischen das Vestibül betreten und die letzten Worte gehört. Er hemmte den Schritt und warf einen fragenden Blick auf den Portier. Dieser zog die Mütze und stellte sich stramm: „Der junge Mann will zu Seiner Exzellenz, Herr Hofrat. Ich habe ihm bedeutet, daß das nicht angeht, aber er läßt sich nicht abweisen.“ „Jawohl, Herr Hofrat, ich muß unbedingt den Herrn Oberpostdirektor heute noch sprechen!“ fügte der Jüng¬ ling dringend hinzu, indem er wieder rasende Anstrengungen machte, an seinen Hut zu greifen. Schließlich klemmte er drei von den Briefbündeln zwischen die Beine und so gelang es „Exzellenz ist heute nicht zu sprechen, erwiderte der Hofrat. „Wie heißen Sie? „Lehmann —. Alfred Lehmann aus der Währingerstraße Er sagte das mit so bedeutungs¬ vollem Nachdruck, daß der Beamte lächeln mußte. „Handelt es sich um eine dienstliche Angelegenheit?“ fragte er dann. „Jawohl — sehr dienstlich!“ „Dann kommen Sie, bitte. Der Hofrat schritt voran, die Treppe hinauf zu einem der im ersten Stock gelegenen Empfangszimmer. Alfred Lehmann hatte seine von den unteren Extremitäten eingeklemmten Pakete aufgegriffen und der Sicherheit halber den Hut gleich mit in der Hand behalten. So folgte er mit der Eile und Geflissenheit eines Menschen, der gar nicht die Zeit erwarten kann, bis er endlich sein Herz erleichtert. „Also Sie wünschen —“ fragte der Hofrat, nachdem er die Aktenmappe abgelegt und den jungen Mann noch einmal prüfend betrachtet. „Ich wünsche Gerechtigkeit,“ erwiderte dieser mit Pathos und packte alles was er in den Händen, unter den Armen und in den Taschen seines Überziehers hatte, auf den nächsten Tisch. „Ich wünsche, Herr Hofrat, daß ich als Bürger, Familienvater und Steuerzahler von einer kaiserlichen Behörde nicht geschädigt und zur Ver¬ zweiflung gebracht werde! So —“ fügte er hinzu, indem er seine Taschen beklopfte, ob da nicht noch ein ver¬ lorenes Bündel stecke, dann wies er mit einer runden Handbewegung auf den Haufen und sagte: „All diesc Briefe sind mir binnen drei Wochen durch die Post zugestellt worden! Der Hofrat ruckte an seinem Zwicker, sah auf die Briefe, dann auf den jungen Mann und sagte:
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