Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

Wo mochte das Mädchen so spät noch außer Hause sein? War ihr doch oftmals an das Herz gelegt worden, um diese Zeit den Hof nicht mehr zu verlassen, was auch bis jetzt immer getreulich von Agathe befolgt worden war. Eine ihr selbst unerklärliche Unruhe befiel die Alte. Sie rannte nach dem Marterl und zurück, sie eilte ein Stück den Weg über die Wand hinauf und rief über¬ all hin, sie ging den Pfad ins Tal abwärts. Immer wieder war ihr Spähen vergebens und dazu der Totenhofer nicht in der Nähe! Endlich in ihrer äußersten Not ent¬ chloß sie sich zu einem Schritte, den sie nur klopfenden Herzens unter¬ nahm, weil ihn der Bauer sicher nicht gut heißen würde. Wieder eilte sie nach der Ge¬ rümpelkammer, nahm aus einer ver¬ borgenen Ecke einen Schlüssel und perrte die schwere Eichentür auf. Kälte und Nacht und Brausen wehte ihr entgegen, als käme es mitten aus dem Eingeweide des Berges. Sie lauschte einen Augenblick; dann griff sie in eine kleine Spalte des Gesteins, die nur eine kundige Hand zu wissen wußte, und holte dort einen kurzen, schmalen Gegenstand hervor. Es war ein kleines Holz¬ pfeifchen, das sie hierauf an den Mund setzte. Ein scharfer, schriller Pfiff erklang in die Finsternis hinein und wider¬ hallte innen an den Felsen. Sie lauschte aufmerksam ein paar Minuten. Nun schien sich etwas in der Ferne zu regen. Endlich vernahm Traudl Schritte näher kommen. In dem Dunkel war eine herku¬ lische Gestalt sichtbar. „Was gibt 's?“ frug er. „Hoffentlich koa Unglück noch!“ flüsterte Traudl, „'s Kind is fort, 19 s Agerl — verschwunden, als ob 's der Erdboden eing'schluckt hätt' der Bauer is net da — da hab' i mir denkt „I soll 's suchen!“ vervollständigte der aus der Höhle Getretene mit ha¬ stigem Kopfnicken. „Da hast recht g’habt —i lass’ miso nimmer länger begraben — latzt wird 's mir zumal zu bunt — i hab' a a Recht, z'leben, und lieber kommt, was kommt, als länger so weiter! Glei bin i da!“ Der rasche Schritt verlor sich wieder in der Höhle; aber bald kehrte der Höhlenbewohner ausgerüstet zurück und verlies nach kurzem Gruße das Haus. Es ward spät und später, bis auch der Totenhofer heimkehrte, dem Traudl ihre Herzensangst nicht mehr ver¬ bergen konnte. Wie er von dem Verschwinden eines Kindes hörte, faßte er die Alte an den Schultern, schüttelte sie derb und rief, daß die Wände hallten: „Hab' i dir 's net anvertraut, hab’ i dir 's net auf d' Seel ’bunden wo hast mei oans und alles?“ „Aber i kann ja nix dafür!“ jam¬ merte die arme Alte. Sie is ja no iet furt und der liebe Himmel wird s a heut' wieder zurückführen!“ „I woaß 's, wo's herkommt!“ rief der Totenhofer drohend. „Seit a paar Tag' geht's Unheil um bei uns vom Tal drunten — aber wann mir daner an mein Kind g’rührt hat von dene drunten — wahrhaftig, es könnt' sein, daß i dös no wirklich werd' was sie mich allweil hoaßen — der Toten¬ hofer!“ „Um Gotteswillen, Bauer!“ win¬ selte die Alte in höchster Angst. „Bleib' da — sonst g'schieht a Un¬ glück!“ „Lass’ wenigstens dein Stutzen da!“ rief sie, als er die Büchse auf die Schulter warf. Er lachte wild auf. „Glaubst du, sagte er geringschätzig, „daß dem 's Leben g’rett't is, der meinem Kind 2*

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