8 ihren Kinderjahren heftig gegen sie geworden war, wenn sie in kindlicher Neugierde den Wunsch geäußert hatte, an den Fuß der Berge hinunter zu steigen zu den Menschen, die dort wohnten. „Nein,“ hatte er dann laut und zornig gerufen, „du hast da unten nix verloren! Hüat' di, daß i di net amal auf dem Weg dorthin ertapp. Später waren diese Gelüste in ihr zurückgetreten und sie hatte sich glück¬ lich und zufrieden gefühlt in ihrer Einsamkeit, im Zusammensein mit ihrem Vater und mit der alten Traudl, die das Hauswesen besorgte, in froher Arbeit und ungestörter Ruhe. Jetzt aber plötzlich fluteten all jene Fragen, die sie in der Kindheit so gern gestellt hätte, obwohl sie damals die Dinge noch nicht mit jener Schärfe des Verstandes erfaßte wie jetzt, doppelt mächtig auf sie ein. Warum durfte sie nicht hinunter ins Tal — warum schmähten die vom Tal unten ihren Vater? Eine Unruhe befiel sie, eine Unge¬ wißheit, ob nicht ein dunkles Rätsel sich zwischen ihr und denen drunten aufbaue — „ja,“ murmelte sie vor sich hin, „ich komm' zum Sonnwend¬ euer, und wenn ich zu Grund' gehen müßt' — ich muß erfahren, was die das Recht gibt, meinen Vater zu be¬ leidigen. Der gefaßte Entschluß, so schwer dessen Ausführung werden und so Peinliches ihr unter den vielen Men¬ chen, die sie nie gesehen, bevorstehen mochte, wirkte wie ein Trost auf ihre elbständige, in sich frühzeitig gefestete Natur. Sie erhob sich, faltete die Hände und sprach in ihrer frommen Weise, wie die alte Traudl sie so erzogen hatte, ein Gebet; dann wendete sie sich der üppigen Bergwiese zu, die hier vom Rande der Felswand sich gegen die Röslalm ausdehnte, und pflückte, wes¬ wegen sie eigentlich heraufsteigen wollte, einen frischen Strauß köstlich duftender Blumen, um damit abends, wenn der Vater heimkehrte, seinen Tisch zu zieren. Dabei überraschte er sie. Aus dem Hochwald oben, wo er das Wild hegte — die ganze Bergjagd gehörte ihm — stieg er herunter, den Rucksack und die Büchse über der Schulter. Der Totenhofer war eine mächtige, gebietende Gestalt mit Sehnen wie Stahl und hoch aufgerichteten Ganges, mit scharfen Augen und wetterharten Zügen — ein Bild mann¬ licher Kraft, dem nur die tiefen Falten auf der Stirne und die frühzeitig er¬ bleichten Haupthaare einen eigentüm¬ lichen, auf bittere Erfahrungen hin¬ deutenden Ernst verliehen. Als er seine Tochter vom weiten in der Wiese knien sah, blieb er stehen und betrachtete sie. Liebe und Stolz leuchteten aus seinen lebhaften Augen, wie er so ihre schöne, ebenmäßige Ge¬ stalt und ihr zartes, schönes Gesicht überflog — dann aber seufzte er tief auf, seine Stirn verfinsterte sich und er strich mit der Hand über die Falten, als wollte er sie und all das, was ihn bekümmerte, mit einem Ruck hin¬ wegwischen. Außerlich wenigstens gelang es ihm auch, die Spur der Sorge aus seinem Gesichte zu verscheuchen, und sein An¬ ruf klang fröhlich, als er jetzt näher herantrat und sagte: „Grüaß di Gott 27 Agerl, tuast no Bleamerln brocken: Sie sah rasch auf und wie sie ihren Vater so stolz und liebevoll vor sich stehen sah, füllten die Tränen über den ihm angetanen Schimpf gegen ihren Willen für einen Moment von neuem ihre Augen. „Was hast denn?“ rief er. „Jglaub' gar, du woanst?“ Ein tiefer Schreck zitterte durch seine Stimme, zugleich aber etwas wie eine Drohung — nicht gegen sie, gegen andere, die ihr ein Leid getan. „Nix,“ stammelte das Mädchen, das seinen Schmerz schon wieder bewältigt hatte.
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