Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

92 ein Mann, der in der Kultur, Dichtung und Wissenschaft seines Landes eine hervor¬ ragende, ja einzigartige Stellung einnimmt, trat als provisorischer Präsident an die Spitze der Staatsgewalt, welche nun in energischer Weise gegen die Klerikalen auf¬ trat, die Mönche vertrieb, die Kongrega¬ tionen und besonders die Jesuiten auflöste, die Trennung der Kirche vom Staate de¬ kretierte und die Familie Braganza für immer aus Portugal auswies. Am 28. Mai 1911 folgten dann, nachdem das Stimm¬ recht auf alle Soldaten und alle des Lesens kundigen Zivilpersonen ausgedehnt worden war, die Wahlen in die konstituierende Na¬ tionalversammlung, und als diese zusam¬ mengetreten war, erklärte sie feierlich Por¬ tugal als demokratische Republik und sprach die Abschaffung der Monarchie und die Ver¬ bannung der Dynastie Braganza aus. Die provisorische Regierung wurde im Amte — bestätigt. Am Schlusse der Berichts¬ periode mehrten sich jedoch die Anzeichen einer gegenrevolutionären Bewegung und Verschwörung zugunsten der Wiederein¬ setzung der Monarchie, ohne daß aber bis nun von irgend einem greifbaren Erfolge gesprochen werden könnte. Türkei. Die glücklich verjüngte Türkei war in der Berichtsperiode nicht auf Rosen gebettet. Zwistigkeiten in der jungtürkischen Partei führten zu Ministerkrisen und bedenklichen Konflikten, dazu kamen aufständische Be¬ wegungen im Jemen (Arabien), Maze¬ donien und besonders Albanien, welche, wohl — bis auf jene im Jemen — an sich durch Waffengewalt niedergeworfen, aber doch das osmanische Reich nicht recht zu ruhiger Konsolidierungsarbeit kommen ließen. Besonders gefährlich hätte dem Reiche der Malissorenaufstand in Albanien werden können, da derselbe offenbar vom jungen Königreich Montenegro geschürt worden war, das sich bei der Sache wohl gerne einen kleinen Gebietszuwachs ergat¬ tert hätte. Hoffentlich werden nach Nieder¬ werfung dieses Aufstandes durch Torghut Schefket Pascha, die im Juni 1911 er¬ folgte Reise des Sultans in Teile Alba¬ niens, die große Truppenschau am Amsel¬ felde vor dem Sultan am 16. Juni 1911 die Unterwerfungserklärungen der Malis¬ soren und Miriditen, die angekündigte Amnestie und Gutmachung der durch die militärischen Maßnahmen verursachten Schäden, die Pläne Montenegros zunichte machen. Das Verhältnis Kretas zur Türkei ist noch immer nicht definitiv geordnet. Das Doppelspiel der sogenannten Schutzmächte hindert zweifellos eine solche Ordnung. Am 28. Februar 1911 wurde der am kleinasiatischen Ufer gelegene Konstan¬ tinopeler Vorort Kusgundschuk — ein zu¬ meist aus holzgebauten Villen bestehender Sommeraufenthaltsort durch einen Brand fast vollständig vernichtet. Griechenland. Die Wahlen zu der in der vorjährigen Berichtsperiode ausgeschriebenen National¬ versammlung, welche eine Verfassungsän¬ derung beschließen sollte, fanden im August 1910 statt. Sie waren ein Plebiszit zu¬ — gunsten des griechischen Kretenser oder wenn man will — kretensischen Griechen, des Chefs der provisorischen kretischen Re¬ gierung Venizelos, der nach seiner Wahl in die griechische Nationalversammlung jene Stelle sowie sein Mandat für die kretische Abgeordnetenkammer niederlegte. Die Nationalversammlung wurde am 14. September 1910 vom König feierlich eröffnet; es kam jedoch in derselben bald zu großen Tumulten, da ein sehr großer Teil der Versammlung, die nur einzelne nicht fundamentale Bestimmungen der Ver¬ fassung zu revidieren berufen war, dieselbe gegen den Willen der Regierung in eine wahrhafte Konstituante verwandelt wissen wollte. Daraufhin gab das Ministerium Dragumis seine Demission, wonach Ve¬ nizelos an die Spitze der Regierung trat. Eine seiner ersten Taten war die Auflösung der revoltierenden Nationalversammlung. Am 22. Jänner 1911 trat dann die neu¬ gewählte, weit zahmere Nationalversamm¬ lung zusammen, welcher in erster Reihe die Revision der Verfassung, dann die Revision der Geschäftsordnung, die Budgetberatung

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