Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

88 gebend, dem Fürstentum eine Verfassung, die am 8. Jänner 1911 in vollständiger Ausarbeitung kundgemacht wurde. Am 4. Juli 1910 starb zu Mailand Giovanni Virginio Schiaparelli, durch lange Jahre Direktor der Mailänder Stern¬ warte, einer der größten Astronomen unserer Zeit — der Entdecker der soge¬ nannten Marskanäle im Jahre 1877. Er war am 4. März 1835 zu Savigliano in Piemont geboren. Am 28. August 1910 starb in seiner Villa in Sto. Terenzo bei Spezia Pro¬ fessor Paul Mantegazza, der Verfasser der „Physiologie der Liebe“ und der „Hygiene der Liebe“ und vieler anderer physiologi¬ scher und psychologischer Werke. Mante¬ gazza war am 31. Oktober 1831 in Monza geboren. Frankreich. Tausend Jahre sind es — da zogen, von Rollo geführt, Wikingerschiffe den Seine¬ strom hinauf und weit ins Frankenland der Karolingerfürsten hinein. Schrecken ging vor ihnen her. Endlich entschloß man sich am Karolingerhofe, mit den Nordlandmännern und deren Heerführer zu verhandeln. Man verhieß Land und fruchtbare Siedlung, Rollo selbst aber des Königs Tochter Gisla als Ehegemahl, doch müßte sich der fremde Kriegsheld selbst in die fränkische Staats¬ ordnung fügen, die Taufe nehmen und der mächtige Schirmvogt des Frankenreiches am Nordseegestade werden. Und, wenn die geschichtliche Kunde wahr spricht, so ward im Juni vor tausend Jahren im Kirchspiel von St. Claire am Eptefluß zwischen Rollo und dem Frankenkönig der Friede geschlossen und damit ein reisiges germanisches Le¬ hensstaatswesen an der Seinemündung be¬ gründet. Dies der Ursprung der Normandie deren tausendjährige Bestandsfeier in der letzten Dekade des Juni 1911 zu Rouen, der Hauptstadt der Normandie, in Anwesenheit des Präsidenten der Republik mit glänzenden Festen begangen wurde. Und wieder legte ein Wikingerschiff am Strande der Seine an und wieder ward Gisla, die karolingische Königstochter, mit dem Normannenherzog Rollo vermählt — ein friedlich Gegenspiel der Gegenwart zum ernsten Wahrspiel der Vergangenheit; der romantische Prolog zu der tausendjährigen Geschichte einer der blühendsten Landschaften Frankreichs! * * * Am Schluß der vorigen Berichtsperiode tand in Frankreich das Ministerium Briand am Ruder; als dieses, ohne eigentlich durch eine parlamentarische Aktion hiezu ge¬ zwungen zu sein, aus Opportunitäts¬ gründen freiwillig am 27. Februar 1911 seine Demission gab — der große, im Ok¬ tober 1910 ausgebrochene Eisenbahnerstreik und dessen Folgen hatten ihm das Leben sauer gemacht und eine gewisse Lauheit in Handhabung der Kirchengesetze ihm einen großen Teil der republikanischen Mehrheit entfremdet — folgte ein Ministerium Monis, das seinerseits wieder — eigentlich auch auf einem Umweg — am 23. Juni 1911 zu Fall kam. Am 22. Juni 1911 bekannte sich das Ministerium Monis als Anhänger des Proportionalwahlrechtes, das an die Stelle des geltenden Arrondissementswahlrechtes (Mehrheitsskrutinium) treten sollte; mit sehr starker Majorität stimmte die Depu¬ tiertenkammer bei, aber am nächsten Tage rächten sich die radikalen Anhänger des Arrondissementswahlrechtes, indem sie sich in einer, besonders in Friedenszeiten, un¬ tergeordneten militärischen Frage mit der Rechten verbanden und dem Ministerium Monis eine Niederlage beibrachten. Nach¬ folger des Ministeriums Monis war ein Ministerium Caillaux. Eine eigenartige Aufstandsbewegung kennzeichnete die Berichtsperiode, d. i. die sogenannte Champagne=Revolte im April 1911. Den Anlaß hiezu bot ein Gesetz, das die Winzer der Champagne vor fremder Konkurrenz schützen sollte, indem es ver¬ fügte, daß nur der Wein aus einem be¬ stimmten Rayon (die eigentliche Champagne und noch einige Departements) zur Ver¬ fertigung von Champagner verwendet wer¬ den dürfe. Dieses Gesetz erregte nun wieder besonders die Winzer des weingesegneten Departements Aub derart, daß das Rayo¬ nierungsgesetz wieder aufgehoben wurde Nun gab es in der eigentlichen Champagne einen veritablen Aufstand, große Cham¬

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