Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

80 In der diesseitigen Reichshälfte ist der deutsch=tschechische Konflikt in Böhmen nach wie vor zu keiner Lösung gekommen und das wirkt selbstverständlich störend auf die ganze innerpolitische Entwicklung Österreichs. Auch das erste Volksparlament hat sich nicht dauernd als ein Hort gedeih¬ licher Arbeit erwiesen; zunächst die Ob¬ struktion im Budgetausschuß und dann die feindliche, die Annahme des Budget¬ provisoriums hindernde Stellung, welche die Polen wegen der Wasserstraßen¬ frage gegen das Ministerium Bienerth oder eigentlich gegen dessen Finanz¬ minister Bilinski einnahmen, wirkte lähmend auf die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, so daß sich zunächst wieder¬ holte Vertagungen des Abgeordnetenhauses (am 5. Juli 1910 und am 27. März 1911) und dann am 30. März 1911 dessen Auf¬ lösung als notwendig erwies. Die zum größten Teile am 13., respektive 20. Juni 1911 erfolgten Haupt=, respektive Stich¬ wahlen ergaben zwei Resultate von großer, ja in einem Punkte einschneidender Bedeu¬ tung: den elementaren Echek der christlich¬ sozialen Partei in Niederösterreich und speziell in Wien und die Stärkung des deutschen Nationalverbandes. Die christlich¬ soziale Partei vermochte in Wien von den bisherigen 20 Mandaten nur drei zu be¬ haupten und alle ihre Führer: Land¬ marschall Prinz Liechtenstein, Handels¬ minister Dr. R. Weiskirchner, Landes¬ ausschuß Dr. Geßmann, Bürgermeister Dr. Neumayer, Vizebürgermeister Hier¬ hammer, Oberkurator Steiner, Präsident Dr. Pattai, R. v. Wittek, sind ihren Gegen¬ kandidaten unterlegen; sie fielen als Opfer der unglücklichen Agrarpolitik ihrer Partei. Der deutsche Nationalverband, der im auf¬ gelösten Hause 78 Mitglieder zählte, wird im neuen Hause deren mindestens 99 zählen und damit in diesem Hause die stärkste politische Partei sein. Sonst sind im Stande der Parteien keine großen Verschiebungen vorgekommen. Die am 19. Juni 1911 in Ostgalizien vollzogenen Wahlen forderten in Drohobycz 27 Tote und 52 Verwundete. — Der Ausfall der Wahlen in Wien hatte zunächst die Demis¬ sion des Handelsministers Dr. Weiskirchner, dann aber auch jene des Ministeriums Bienerth zur Folge, welches am 28. Juni 1911 zurücktrat, um einem Ministerium Gautsch Platz zu machen In Transleithanien — das wäre hier noch zu erwähnen — ergab sich wohl unter der Herrschaft des Banus Tomasic eine gewisse Annäherung zwischen Magyaren und Kroaten, aber eine eigentliche Kon¬ solidierung der Verhältnisse war auch dort in dieser Beziehung vorerst noch nicht einge¬ treten; das bewies zunächst u. a. die am 28. August 1910 erfolgte Auflösung des am 18. März 1910 nach einer zweijährigen Pause erst wieder zusammengetreten ge¬ wesenen kroatischen Landtages. Die Neu¬ wahlen erfolgten dann im Oktober 1910, ohne daß aber dadurch, trotz des anfangs Februar 1911 erfolgten Eintrittes eines Teiles der Kroaten in die ungarische Re¬ gierungspartei, alle Schwierigkeiten voll be¬ hoben worden wären. * * Bei der jüngsten Volkszählung wurden am 31. Dezember 1910 in Wien, auf die verschiedenen Bezirke verteilt, 2,004.291 Einwohner gezählt, wozu noch aktives Mi¬ litär (Offiziere und Mannschaften) in einer Anzahl von 26.543 Mann hinzu¬ zuzählen ist, so daß sich als Einwohner¬ zahl für Wien auf Grund der jüngsten Volkszählung 2,030.834 Personen ergeben Verglichen mit der Volkszählung von 1900 bedeutet dies (wenn man für letztere wie für jene von 1910 die Einwohnerzahl von Floridsdorf — XXI. Bezirk —einbezieht) eine Zunahme der Bevölkerung Wiens um 303.761 Personen. Am 2. Dezember 1910 wurde im Wiener Rathause unter großen Festlichkeiten durch den Kaiser die II. Wiener Kaiser Franz Joseph=Hochquellenleitung eröffnet. Durch die Vollendung dieses stolzen Werkes hat die die I. Wiener Hochquellenleitung — geistige Schöpfung Eduard Sueß', die — Quelle der Assanierung Wiens ihre durch die Vergrößerung Wiens notwendig gewordene Entlastung erfahren; Wien ist nun auf Jahrzehnte hinaus vor Wassernot geschützt und der Sorge um ihre Beseiti¬ gung enthoben. *

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