Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

60 seiner Hand leichter zu nehmen sein aber du liebst ihn, ich begreife das; wir müssen auf diese Hilfe verzichten! Plötzlich ging eine zuckende Bewegung durch seine Züge; die trostlosen Augen chauten auf einmal voll schmerzlichen Mitleids. Er legte eine Hand auf He¬ lenens Haupt. „Du Arme, du liebst ihn und bleibst glücklos! Wäre ich der wohl¬ habende Mann, der ich nur mehr scheine, du könntest ihm freudigen Herzens das Jawort geben. Nun zer¬ tört mein Ruin auch dein Glück, deine Hoffnung! Das — das trifft mich tiefer — als das andere! Armes Kind, wenn ich das ändern könnte, das! Helene erhob sich. Auf ihrem blassen Gesicht lag der Widerschein eines mutigen, edlen Herzens. „Darüber wird mir eines hinweghelfen, die Ar¬ beit!“ sagte sie. Sie küßte ihn sanft auf die Wange. „Und jetzt geh', mein lieber Vater, geh' an die Arbeit, zusammen wollen wir das Unvermeidliche tragen und uns freuen, daß wir das Beste noch haben, ein reines Gewissen.“ Griftner küßte seine Tochter und wandte sich den Geschäftsräumen zu. Aus der Festkönigin aber war über Nacht ein armes Mädchen geworden. IV. Griftner saß noch nicht lange in seinem Arbeitszimmer, als ihm un¬ erwarteterweise Geimann schon gemel¬ det wurde. Dieser trat mit ernster Miene ein. „Ich komme früh“, sagte er. „Mein Bruder ist plötzlich gestorben. Vor einer Stunde habe ich das Telegramm erhal¬ ten und muß nun mit dem nächsten Zug, der in zwei Stunden abgeht, heimfahren, um die Verhältnisse für die Witwe zu ordnen. Das wird mich nun wochenlang daheim festhalten. Ich aber würde unruhigen Herzens sein und die notwendigen Arbeiten schwer verrichten, wenn ich nicht Gewißheit hätte über Helenens Gefühle für mich Ich liebe Ihre Tochter, Herr Griftner; und obwohl ich gestern auf meine we¬ nigen Worte keine Hoffnung von Fräu¬ lein Helene empfing, bin ich dennoch heute hier, Sie um die Hand Helenens zu bitten. Ich kann nicht so leichthin alle Hoffnung aufgeben; ich will ver suchen, Helenens Widerstand zu besiegen habe ich doch gestern zu Anfang des Festes gemeint, in ihrer Bruft lebe ein warmes Empfinden für mich. Sie war anders zu mir wie zu den übrigen, ich habe sie beobachtet. Nachher freilich nahm sie plötzlich ein kaltes Wesen an. Nicht wahr, Sie gewähren mir eine längere Aussprache mit Helene? Griftner sah schweigend vor sich nie¬ der. Was sollte er sagen? Daß Helene nicht ihn liebe, sondern einen anderen Unwahrheiten? Sollte er den Mann belügen, der sein Herz offen zeigte? Würde ihm die Lüge nicht so wehe tun wie die Wahrheit? Er aber hatte kein Recht, das Geheimnis eines Mädchen¬ herzens preiszugeben. Für Geimanns Ungeduld schwieg Helenens Vater zu lange. Die Angst stieg auf in seinem Innern. „Herr Griftner,“ rief er ist sie „was ist's mit Helene? Istversagt? Der alte Mann hob plötzlich den Kopf. Sein Blick forschte in den Zügen des anderen, senkte sich dann mit stum¬ mer, tiefernster Frage in die Augen Gerhards. Und plötzlich schlich es son¬ nenhell über seine Züge; es war wie eine Gewißheit in seinem Herzen auf¬ getaucht: dieser Liebe durfte er ver¬ trauen, sie war groß und echt. Die Wahrheit, die Wahrheit, sie sollte sieg¬ reich ans Tageslicht! Die Lippen des alten Mannes wurden beredt. Er er¬ zählte auch von seinem Vorhaben, Ger¬ hards Hilfe für das Geschäft zu gewin¬ nen. Klang auch ein kurzes, momen¬ tanes Zagen hindurch, als er von seinem Ruin sprach, um so frischer schil¬ derte er dann wieder Helenens wahr¬ hafte Liebe, ihre Ehrlichkeit, ihren Mut zur Arbeit. Und der andere lauschte. Erst ver¬ wundert, dann mit so leuchtenden Augen, daß sie wie zwei Sonnen in einem Gesicht standen. Als Griftner

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