Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

58 kurze Minuten wenigstens, mit ihr allein zu sein. Da zog sie sich fast schroff zurück. Ach, es durfte nicht sein, sie durfte das nicht aus seinem Munde vernehmen, was sie so gerne gehört hätte. Sie floh ihn. Sie war plötzlich eine der Lustigsten, stand umringt von einer Schar Herren, die sich schmei¬ chelnd, bewundernd an sie herandräng¬ ten. Sie tanzte eifrig mit ihrer unge¬ uchten, unnachahmlichen Grazie. „Holdselige Festkönigin!“ raunte ihr der eine und der andere der Herren entzückt zu, bis es einmal lauter klang und an das Ohr eines jungen Mäd¬ chens drang. Neidisch folgten ihr die Blicke der Damen. Aber in den Augen der Festkönigin stand das Leid, das große, unbezwingliche Leid. Als es aber gar zu überwältigend wurde in ihr, als ihre Lippen während des erzwungenen heiteren Lachens heftig zu zucken be¬ gannen, da flüchtete sie sich in ein stilles Zimmer und ließ den Vater rufen, um mit ihm heimzufahren. Aber ehe der Vater kam, stand Gei¬ mann vor ihr. „Endlich!“ sagte er auf¬ atmend. „Da habe ich Sie nun, Fräu¬ lein Helene, nach langen, fruchtlosen Versuchen, Ihrer habhaft zu werden Ich muß Ihnen ja etwas sagen, Helene, ich muß!“ Leidenschaftlich, aber mit ge¬ dämpfter Stimme fuhr er fort, wäh¬ rend er nach ihren Händen griff: „He¬ lene, beim ersten Sehen schon schlich es sich warm in mein Herz! Heute 0 Helene, Sie müssen es ja erkannt haben, daß ich — Mit gewaltsamer Bewegung zog sie ihre Hand aus seiner, fast barsch wandte sie sich ab. „Sprechen Sie nichts weiter, Herr Geimann, ich dar ich will nichts mehr hören! Der harte Ton verklang. Geimann stand betroffen; als er sich ihr wieder nähern wollte, erschien Griftner auf der Schwelle. „Wie, Helene, dir ist nicht wohl, du willst heimfahren?“ rief der Vater, zur Tochter eilend; als diese wortlos den Kopf schüttelte, nickte er freundlich Herrn Geimann zu und fragte: „Nun, wie amüsieren Sie sich, Herr Geimann? Gewiß vortrefflich!“ Helene aber hängte sich rasch an seinen Arm. „Komm', Papa, ich habe Verlangen, daheim zu sein!" Und sich leicht vor dem jungen Mann vernei¬ gend, sagte sie kühl: „Adien, Herr Gei¬ mann!“ Aber dem rang es sich schwer über die Lippen: „Herr Griftner, ich möchte für morgen vormittags um eine kurze Unterredung bitten!“ Griftner nickte bereitwillig. „Kom¬ men Sie nur, ich bin morgen daheim. Drunten im Wagen fragte er gespannt „Was ist mit dir und Geimann, He¬ lene? Ihr wart beide erregt; ist etwas vorgefallen zwischen euch? Helene antwortete vorerst nicht. „Nichts“, sagte sie nach einer Weile end¬ lich tonlos. Als gleich darauf der Schein einer Gaslaterne in das Innere des Wagens fiel und Helenens Gesicht matt beleuchtet erschien, sah Griftner, daß sie blaß und traurig war. III. Helene legte sich zu Bette, stand aber nach etwa einer Stunde wieder auf; ihre quälenden Gedanken ließen sie nicht schlafen. Sie zündete die Lampe an, holte sich ein Buch und setzte sich am Tische nieder. Aber statt zu lesen, gab sie sich aufs neue den grübelnden Ge¬ danken hin. Und langsam wich die Nacht und das junge, noch schwache Frühlicht schlich sich verstohlen durch die Spalten der Fenstervorhänge ins Ge¬ mach. Helene erhob sich, schlug die Vor¬ hänge zurück und öffnete ein Fenster. Die etwas scharfe Oktoberluft zog in den Raum. Helene fror; aber sie atmete in langen Zügen die frische Luft, die ihren vom Tanz im verschlossenen Raum, von der Nachtwache ermüdeten Lungen wohltat. Ein Tuch umnehmend setzte sie sich ans Fenster und starrte in den kommenden Tag hinaus. Mit sehn¬ süchtigen Augen. Brächte doch der Tag ihr die Sonne —das Glück. Um die feingeschwungenen Lippen zuckte es leise vor Herzweh. Nein, sie

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2