Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

dere zu vergleichen. War sie auch früher schon eine auffallende Schönheit ge¬ wesen, heute überstrahlte sie alle. Ihr feines, schönes Gesicht, das bei der An¬ kunft ungewöhnlich blaß gewesen war, färbte sich bald mit einer Röte, die eine starke innerliche Erregung dahin ge¬ rufen. Und diese Erregung gab den Zügen einen tieferen, seelischen Aus¬ druck. Denn einer umwarb sie ganz be¬ sonders, der ihr bisher, in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft, ernst und zu¬ EA 1 0 80 S Seeenn S 5 65 Sere rückhaltend erschienen war — Gerhard Geimann. Und aus seinen Augen brach bei jedem Satz, den er zu ihr sprach, ein seltsamer Schimmer. Es wurde ihr schwerer und schwerer, den leichten, liebenswürdigen Plauderton ihm ge¬ genüber festzuhalten. Jetzt durfte sie ihm ihr wahres Gefühl nicht offen¬ baren. Ach, daß es gerade dieser Mann war, für den ihr Herz Liebe empfand! Das scheue, süße Gefühl, das sie seit der ersten Begegnung gehegt, das war kei¬ mende Liebe gewesen; sie wußte es 2 57 nun, wo seine heißen Blicke wie Flam¬ men in ihr Herz geleuchtet. Diese kei¬ mende Liebe war zertreten — das Höchste, Heiligste in ihrer Seele war in den Staub gezerrt. Es gab keine Hoffnung für sie. Wollte er um sie wer¬ ben und sie die Werbung nicht zurück¬ weisen, so mußte sie ihm die Wahrheit — sagen, wie es mit ihrem Vater stand und das durfte sie nicht. Und wollie sie es dennoch sagen, dann wandte er ihr der Tochter eines sicher den Rücken — 0 22 2 S . 150 — 2 ruinierten Kaufmanns. Mit dieser Hoffnungslosigkeit mußte sie hier stand¬ halten und einen freundlichen Ton an¬ schlagen, weil sie und ihr Vater ihn be¬ trügen wollten! Ach, und sie hätte ihm angehören mögen mit ganzer Scele Geduldig hielt sie aus, trotz der Qual ihres Herzens; sie sah immer wieder ein bleiches Antlitz vor sich mit starren Augen. Der Vater würde seinen Ruin nicht überleben, sie wußte es. Aber plötzlich merkte sie, daß Geimann suchte — nach einer Gelegenheit suchte, für

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