Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

44 sie wußte Bescheid im Schlosse. Inmit¬ ten des kleinen Raumes, der vor Ga¬ brielens Zimmern lag, blieb sie stehen. Stimmen schallten an ihr Ohr, der Komtesse tiefes, volltönendes Organ hatte etwas Verschleiertes, es klang fast wie ein Sprechen aus Tränen. Die Tür, die in den Salon führte, stand halb offen. Frau von Steinau erblickte Gabriele; jetzt wandte diese ihr Antlitz gegen den Eingang. Welch ein Antlitz! Es schimmerte wie aus Marmor ge¬ meißelt und war gekrönt mit der Gold¬ flut des herrlichen Haares. Wie Ga¬ briele dastand und sinnend zu dem Herrn hinübersah, in dem die Baronin den Herzog vermutete, glich sie mehr einem antiken Götterbildnis denn einem lebenden Weibe. Die Augen des Mannes ruhten unverwandt auf der reizenden Erscheinung, seine Worte schienen auf Antwort und Entscheidung zu dringen. Der Baronin bangte vor dem „Ja, das vielleicht schon in der nächsten Sekunde von Gabrielens Lip¬ pen tönen konnte. Einem plötzlichen Impulse gehorchend, überschritt Frau von Steinau die Schwelle. „Gabriele! rang es sich von ihren Lippen. Die Gräfin zuckte zusammen, der Herzog die Etikette, das alles versank vor dem einen bekannten Klang aus den Tagen der Kindheit und sie lag in den Armen der Baronin. „Gabriele,“ stammelte diese, mit der schmalen Rechten den flimmernden Scheitel des Mädchens streichelnd. Gabriele hob den Kopf, blickte um sich und als ihr Auge den Herzog, der sich diskret entfernt hatte, vergeblich suchte, flüsterte sie, wie von einer schweren Last befreit: „Ah, er ist fort!“ Dann sank sie auf den nächsten Sessel, gleichsam zusam¬ menbrechend, wie jemand, der lange ge¬ zwungen war, sich mühsam aufrecht zu halten. Frau von Steinau bemerkte mit Betrübnis die leidende Miene, die trau¬ rigen Augen der Komtesse und hub an „Wer war der Herr, der dich eben verlassen hat? „Wer das war? aber, mein Gott, haben Sie es ihm denn nicht angesehen, daß er ein Herzog von Geblüt ist, der Millionen besitzt? „Also das ist der Herzog, mit dem man dich verloben will“, sprach die Baronin. „Ja, in einigen Wochen bin ich Her¬ zogin. Herzogin, das klingt vornehm, tönte es ironisch von Gabrielens Lip¬ pen, aber mir wäre der traumlose ewige Schlaf lieber. Die Meinen sind sehr stille Menschen geworden. Der Vater sinnt und grübelt mehr denn je und Clemens sitzt meist über seinen Büchern, auch schreibt er an einem wissenschaft¬ lichen Werk, das gewiß Aufsehen er¬ regen wird, aber für mich wird es zu spät sein. Der Ton, in dem die Gräfin das alles sprach, war sehr schwermütig Nun verließen die Damen das Gemach, in der Halle trat ihnen der alte Graf entgegen und begrüßte die Baronin. Seine Ruhe hatte etwas Imponieren¬ des und der hohe Ernst seiner ganzen Erscheinung gemahnte an die letzte Säule eines zertrümmerten Pracht¬ baues, die ruhig den Blitz erwartet, der auch sie niederschmettern wird. In der Dämmerstunde durchwanderten die Da¬ Die men den Park planlos und ziellos. sich Unruhe der Komtesse übertrug auch auf Frau von Steinau und ein geheimnisvolles Weben schien sie zu umgeben. Da blieb Gabriele plötzlich stehen und starrte mit weit geöffneten Angen auf die aschgraue Rinde einer alten Esche. Auch die Baronin hielt ihre „ C Schritte an, aber die Lippen des Mao¬ chens flüsterten, „es ist nichts“, und es suchte die gütige Freundin fortzuziehen. Doch deren Augen waren scharf, ein Blick genügte, um ihr zu zeigen, was Gabriele also zu erregen vermochte. In dem Eschenstamm war mit markigen Zügen fest eingeschnitten der Name „Adrian van der Gracht". Stumm schritten die Damen ins Schloß zurück. Das Abendbrot wurde schweigsam ein¬ genommen; Graf Clemens war nicht bei Tische, Gabriele klagte über Kopf¬

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