Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

wieder erbauen wird aus Schutt und Trümmern. 2. Kapitel. Drei Jahre waren verflossen, seit die wilde Ranke aus den grauen Ruinen in den Boden der Residenz versetzt worden war. Gabriele hatte sich körperlich und geistig zur schönsten Blüte entfaltet und erfreute sich des besten Wohlergehens. Sie genoß die Protektion der Herzogin, Baronin Steinau war ihr mit warmer mütterlicher Liebe zugetan, auch Frau von Bergauer hegte Interesse für sie und erwies ihr viel Liebes. Die Kom¬ tesse war eine treffliche Schülerin, die in allen Lehrgegenständen Tüchtiges leistete, aber das große Talent, das ihr altes Stammschloß aufbauen sollte erwachte nicht, so sehr sie es auch er¬ sehnen mochte. Es war an einem schönen, milden Frühsommertage, die Zöglinge des vornehmen Pensionats sind zur Feier des Geburtstages Ihrer Hoheit von dieser für den Nachmittag und Abend eingeladen. In ihrer großen Güte hatte die hohe Dame kein Opfer gescheut, um den jungen Mäd¬ chen einen Kunstgenuß zu bieten, der ihnen für ihr ganzes Leben in Erinne¬ rung bleiben würde. Ein berühmter Geiger, der alle Hörer bezauberte, den aber ein geheimnisvolles Dunkel um¬ gab, da niemand recht wußte, wes Lan¬ des er kam und welcher Art er sei, sollte bei Hofe spielen. Der Abend kam! Strahlendes Licht durchflutete den prächtigen Musiksaal des Residenz¬ schlosses, ein Surren und Schwirren wogte hin und her. Da erschien der Künstler, eine hohe, vornehme Gestalt Jetzt hob sich der ausdrucksvolle Kopf stolz in den Nacken zurück, die leuchten¬ den Augen überflogen die Menge, dann schallten wundersame Klänge durch den Raum. War das eine Jubelhymne der himmlischen Heerscharen oder war es der Klagepfalm Azraels und seinel Gefährten? Den Versammelten rieselte bei diesen Tönen ein Schauer durch die Glieder. Doch nun, welche wonne¬ 39 berauschten und doch wie um ein ewig unerreichbares Glück klagenden Melo¬ dien wogten durch den Saal. Bald klang es wie leises verlorenes Weinen, bald wie bacchantischer Jubel und dennoch wußte der Geiger bei dem Ineinander¬ fluten der verschiedensten Harmonien die einfache Weise festzuhalten. Es war eben das Genie, das alles vermag, die große Schöpferkraft, die dem Menschen die Macht eines Gottes verleiht. Die ganze Versammlung saß regungslos im Banne der wunderbaren Klänge, sie schien in seltsame Träume versunken zu sein. War das wirklich ein seelen¬ loses Instrument, das so lockende Töne von sich zu geben vermochte? Gabriele schien, wenngleich widerstrebend, nockh mehr als die anderen von dem dämoni¬ schen Spiel bezaubert, es war, als hätten diese Harmonien ein tausend¬ fältiges Echo in ihrer Brust geweckt ihre Lippen öffneten sich, sie tranken die Töne förmlich. Aber Gabrielens trotzige Natur sträubte sich gegen jede Bezau¬ berung. Als das Spiel verstummte und der Jubel verhallt war, löste sich der Bann allmählich. Der Künstler kam in Gabrielens Nähe, sie starrte ihn fun¬ kelnden Auges an und stieß zwischen den bebenden Lippen hervor: „Ach, wie weh haben Sie mir mit Ihrem Spiel getan! Baronin Steinau, die neben der Er¬ regten stand, wollte sie beschwichtigen, doch diese sprach: O „Ich weiß, daß ich unartig und böse bin, ich bin aber auch unglücklich, denn ich habe kein künstlerisches Talent und — mein liebes Greifenstein Der kleinen Gräfin flossen die hellen Tränen über die Wangen und leiden¬ schaftlich rief sie aus: „Ich hasse jeden Menschen, dem die Natur ein großes Talent verliehen hat und Sie, mein Herr, hasse ich am meisten.“ „ Das tolle Mädchen war nach diesen Worten an dem verblüfften Musiker vorbeigeschritten und hatte den Saal verlassen. Und noch einmal spielte der Geiger und es schien, als blicke er un¬

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