38 „Kann ich dort auch lernen, verfallene Schlösser wieder aufzubauen?“ Eine Minute lang blieb die Gefragte stumm und sah überrascht auf das Kind hin, in dessen Seele eine Idee lebte, für die es bereit war, zu ringen und zu kämpfen. „Gabriele,“ rief die Baronin, die kleinen, kalten Hände des Mädchens er¬ fassend, „es gibt viele Frauen aufder Welt, die sich mit ihren Kenntnissen und Talenten Geld und Gut erwerben; vielleicht schlummert in Ihnen ein solches Talent, wir wollen danach suchen, wie der Bergmann nach den Schätzen der Tiefe, und wenn wir einen Schatz finden sollten, wollen wir ihn in goldene Münze umprägen und die alte Pracht und das alte Schloß mögen er¬ stehen in neuer Herrlichkeit. Jetzt flog Gabriele in die Arme der Sprechenden, ihre Tränen netzten deren Wangen, das Mädchen erklärte sich bereit, in die gräßliche Residenz zu gehen und sich der Führung undLei¬ tung der Baronin anheimzustellen. Im goldenen Sonnenschein wanderten die beiden nun durch den Wald und die Wildnis zurück, während die Vögel über ihnen sangen und zwitscherten, Käfer und Libellen summten und schwirrten. Im Schloß angelangt, hatte die Baronin eine längere Unterredung mit dem alten Grafen, den die nahe Trennung von seinem reizenden Kinde schmerzlich bewegte. Es ward alles ge¬ ordnet und besprochen, die Vorbereitun¬ gen zur Abreise waren bald getroffen, viel zu packen gab es nicht. Der Wagen, der die Damen zur nächsten Station bringen sollte, hielt bereits zwei Stun¬ den später vor dem Portale. Die Kutsche gemahnte in ihrem defekten Zustand an die Livree des alten Kunz, der am Schlage stand und bitterlich weinte. Die Pferdchen vor dem altmodischen Ge¬ fährte waren dieselben, die Graf Cle¬ mens und Gabriele im sausenden Ritt so manchmal über die Heide getragen hatten. Das war nun vorbei für Mo¬ nate, vielleicht für Jahre. Gabriele hatte die schmächtigen Kinderarme zum letztenmal um den Nacken ihres Lieb¬ lingspferdes geschlungen, ihre goldenen Locken mischten sich mit der schwarzen, struppigen Mähne. Von nichts und von niemandem vergaß die Komtesse Ab¬ schied zu nehmen. Kunz reichte sie das Händchen und streichelte sein altes Ge¬ icht und sagte ihm: „Wenn ich zurückkomme, kaufe ich dir eine neue Livree.“ Graf Clemens hatte sich auf den Bock geschwungen, er wollte kutschieren; der Vater nahm Gabriele noch einmal in die Arme: „Meine wilde, weiße Taube,“ sprach er, „kehre mir mit ungebrochenen Schwingen zurück“, dann trug er das laut schluchzende Kind in den Wagen Die Ponys jagten dahin, Gabriele weinte leise. Bald war die Station er¬ reicht, kaum waren die Karten gelöst keuchte der Zug heran, dann stand Graß Clemens noch ein paar Minuten mit traurigem Gesicht vor dem Waggon und endlich war auch dieser Abschied überstanden. Gabrielens Tränen ver¬ siegten nach und nach, in der nächsten großen Station beugte sie sich zum erstenmal aus dem Fenster, aber sie fuhr jäh zurück, es standen viele Men¬ schen auf dem Perron. „Ist hier immer ein so großer Ver¬ kehr?“ erkundigte sich Baronin Steinau beim Schaffner. „Nein, keineswegs, entgegnete der lächelnd, „aber da hält sich seit einigen Tagen ein Geiger in der Stadt auf, der scheint ein Zauberer zu sein. Es kur¬ sieren über den schönen Spielmann, der meist nur zu wöhltätigen Zwecken spielt, die wunderlichsten Gerüchte, ob etwas Wahres daran ist, weiß man allerdings nicht, aber daß ihm die Leute auf Weg und Steg nachrennen, ist ge¬ wiß. Die Pfeife der Lokomotive schrillte, der Zug sanste weiter, Gabriele hatte den Kopf zurückgelehnt, sie lächelte und träumte von dem Schlosse, das sie einst
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