Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

fang höhnend und beugte den schmieg¬ samen Körper dabei so weit vor, daß die Baronin ängstlich auf das Mädchen zulief. Und so ging es weiter, Gabriele lockte wie ein Kobold, hüpfte wie ein Irrlicht vor der Dame her, wand sich durch Dickicht und Gestrüpp wie eine Schlange und wie eine Schlange, welche die Erde aufgenommen, war ihre Ge¬ stalt auch plötzlich verschwunden und nur ihre Stimme erschallte äffend und spottend in den wunderlichsten Lauten. Endlich ein Ton, der ihr Versteck ver¬ rät, aus dem windbewegten Laube einer Birke sah die Komtesse boshaft au Baronin Steinau herab: „Wissen Sie, wo wir sind?“ fragte das Mädchen, ihre geschmeidigen Glie¬ der auf dem Aste reckend. „Nein!“ entgegnete die Damé, nicht ohne Bangigkeit die endlose Fläche be¬ trachtend. „Hahaha,“ lachte der Kobold, „das glaube ich wohl, wir sind auf dem Grei¬ fensteiner Moor, und ich sage Ihnen, von hier aus finden sich unter zwanzig Menschen nicht vier wieder zurecht. Gar mancher schon verirrte sich hieher, der nie mehr den Heimweg gefunden, denn die braune Fläche um uns, aus der des Abends die bösen Nebelgeister steigen, das ist das Sumpfland, in dem man ohne Rettung und ohne eine Spur von sich zurückzulassen, versinkt. „Was soll das bedeuten, Gräfin Ga¬ briele?“ rief die bestürzte Baronin. „Ich habe Sie hergelockt, um einen Pakt mit Ihnen zu schließen“, erwiderte Gabriele. „Einen Pakt mit mir?“ fragte die Dame erstaunt. „Ja, Baronin, Sie sollen Schloß Greifenstein verlassen, ohne einen Ver¬ such zu machen, mich mitzunehmen; ver¬ sprechen Sie das nicht, lasse ich Sie hier zurück und dann mögen Sie selber sehen, wie Sie den Weg nach der Resi¬ denz finden. Das rothaarige Hexlein schien aus ihrer Drohung ernst machen zu wollen, aber eine gewisse weibliche Neugierde 37 überwog den Trotz, denn es fragte plötzlich: „Sind viele Mädchen in dem Adels¬ pensionat, in das ihr mich stecken wollt? „Ja, viele, und es kommen immer neue hin, um gut und klug zu werden“ antwortete die Baronin. „Klug!“ rief Gabriele, „die Mädchen werden kaum klüger sein als ich. Bruder Clemens hat mir von Sonne, Mond und den Sternen erzählt, von jedem Grashalm das Sein und Werden * erklart, jeden Vogel und jeden Baum und Strauch kann ich nennen. Auch reite ich mit Clemens um die Wette und schieße jeden Sperling in der Luft, können das die Mädchen im Pensionat 7 auch? „Das letztere gerade nicht, es ist auch nicht wünschenswert,“ sagte die Baronin lachend, „aber zum Beispiel Zerstörtes wieder ganz machen, lernen n die Mädchen dort.“ Bei diesen Worten blickte sie auf den langen Riß in Gabrielens Kleide. „Zerstörtes ganz machen!“ wieder¬ holte Gabriele sinnend, indem sie sich langsam von dem Aste der Birke auf die Erde niedergleiten ließ und die Baronin forschend ansah. „Man lernt Zerstörtes wieder ganz machen in euerer Residenz? „Gewiß!“ lautete die Entgegnung. Die Baronin ahnte nicht, was für ab¬ „ sonderliche Gedanken in dem Mädchen auftauchten, sie fuhr fort: „Alle Zög¬ linge des Instituts lernen gar vielerlei, sie werden angewiesen, sich in jeder Weise zu vervollkommnen und wer sich zu vervollkommnen sucht, der baut immer auf, immer höher und höher, bis der Bau dasteht, herrlich und voll¬ endet.“ „Herrlich und vollendet", flüsterte Gabriele, ihr Auge auf den grauen Ruinen ruhen lassend und dann plötz¬ lich wie aus einem Traum erwachend, streckte sie der Baronin die Arme flehend entgegen und fragte mit feier¬ lichem Ernst:

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