30 rührte lästige, trockene Wolken auf, während die Abendsonne selbst noch mit chrägen Strahlen den Schweiß auf die Stirne lockte. Die Mädchen warteten den Untergang der Sonne ab; ein öst¬ licher kühlender Wind, der ihr zu fol¬ gen pflegte, sollte ihnen den weiten Weg erleichtern. Marie verabschiedete sich diesmal mit ungewöhnlicher Heiterkeit von ihrer Mutter. Die Alte äußerte sogar noch scherzend, daß der nächste blühende Kranz des sorgfältig gepflegten Myr¬ tenbaumes für Marie selber bestimmt sein sollte. Die gute Tochter lächelte anmutig und hüpfte um die Ecke, noch einen Blick nach der Mutter werfend, die, ihren Rosenkranz betend, im Schatten des grauen Pfarrkirchturmes verschwand. Unter diesem Zögern waren die an¬ deren Mädchen in ihrer Eile schon eine Strecke Weges vorausgegangen, doch betrug der Zwischenraum nicht viel mehr als tausend Schritte. Marie hörte zuweilen ein lauteres Wort der plau¬ dernden Gefährtinnen, ein munteres Gelächter oder einige Liederverse, die eine von ihnen sang. Ihr ward nicht oft bange, denn sie hatte den Weg ge¬ chon ohne die geringste Begegnung macht. So wurden zwei Stundenzu¬ rückgelegt; ein wohlbespannter Wagen hätte auf dem ungleichen, über Fels¬ und Waldrücken steigenden Wege nicht mit den jungen rüstigen Fußgängerin¬ nen wetteifern können. Der Vollmond war aus einem dunklen Taleinschnitte rotglühend emporgestiegen und blickte durch die Tannenzweige, wie die ewige Lampe durch ein gotisches Gitter¬ fenster. Die Stille der Natur wurde nur durch den bellenden Anschlag eines jagenden Fuchses unterbrochen, der sich vor dem Geräusche der Fußtritte aus dem Staube machte. Jetzt waren die Pilgerinnen etwa auf die Hälfte des Weges angelangt. Die Beschaffenheit der Gegend bot ihnen hier wie von selber einen Ruhe¬ punkt. Die Straße lief in der Höhe weiter und eine natürliche Felsentreppe stieg seitwärts zu einem Waldbach herab, der sich über Granitbruchstücke silbern schäumend in eine unregel¬ mäßig geformte Wanne ergoß, welche mit ihrem Wasserstaube große Farren¬ kräuter und wilde Blumen tränkte Diese Felsentreppe stieg der Fuhrmann hinab, um seinen Pferden zu schöpfen, wenn sie die Höhe erklommen hatten; an diesem Platze ruhte der Handwerks¬ bursch, der Soldat auf Urlaub, der Hausierer und Mausefallhändler. Jeder schonte den Ort und das vor Tages¬ hitze schützende Laubwerk. Die Blumen¬ händlerinnen pflegten hier stets zu ver¬ weilen, ihre Blumen eine Zeitlang in dem Dunste des kleinen Wasserfalles zu baden, selbst zu trinken und das Gesicht zu kühlen. Sie taten es auch in dieser Nacht und beschlossen, auf Marien zu warten, die langsam den Berg erstieg und den Felspfad heiter herabschritt. „Geht nur wieder weiter, wenn ihr so große Eile habt, ich folge euch in wenigen Minuten!“ sagte Marie, als nach kurzer Frist die Mädchen wieder aufbrechen wollten. rief die Alteste, „Komm, komm, „gehen wir lieber alle zusammen, ich höre etwas im Gebüsch rauschen, es kommt mir heute so unheimlich vor. „Du bist eine Närrin! Es ist die Grasmücke, die hier ihre Jungen im Neste füttert. Eine Grasmücke sucht jetzt nicht Futter; die Vögel schlafen so gut wie die Menschen“, rief das Mädchen, wie von einer inneren Angst getrieben. „Die Vögel und die Menschen schla fen und wir sind doch munter; es wird mir niemand etwas zu Leide tun laßt mich nur noch den Kranz und die Rosen ins Wasser tauchen.“ Die Mädchen stiegen eine hinter den anderen den Fels hinauf und ver¬ schwanden auf der Höhe, die sich wie¬ der in dichtes Gebüsch senkte Marie kniete nieder, nahm den Kranz aus dem Korb und tauchte ihn
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