Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

28 nerin. Als ob ihre Gedanken abwesend wären, hatte sie zuweilen Dornen und unheimliche Schierlingsstauden unter ihre Blumen gemengt. Die Käufer mieden ihre Ware und die Zigen¬ nerin verschwand allmählich aus der ersten Reihe der Blumenverkäufe rinnen. Sie schien sich der angemaßten Herrschaft begeben zu haben. In diese Zeit fiel ein Ereignis, das nicht ohne inhaltschwere Folgen blei¬ ben sollte. Marie befand sich im Hofc des Gasthauses. Sie war beschäftigt, etwa ein Dutzend schöner, farbiger Fruchtschalen, wie man sie zum Ser¬ vieren von Konfitüren anwendet, an dem Brunnen zu reinigen. Die dunklen Armel ihres Trauerkleides waren auf gestreift und das sprudelnde Wasser rauschte aus dem blanken messingenen Hahne neckisch über ihre weißen Arme. Wie das Licht auf die schlanke, von einigen dunkelgrünen Tannenzweigen am Brunnenkessel umgebene Gestalt fiel, hätte einer jener alten niederlän¬ dischen Künstler das Bild des heiteren Mädchens vielleicht ebenso eifrig auf den reinlichen Boden des nahen Fasses gezeichnet, als einst der junge Maler von Urbino das Porträt der Schönen in der Böttcher¬ werkstatt, aus der es als eine seiner herrlichen Ma¬ donnen hervorgehen sollte. Es war der unsterblichen Geister kei¬ ner zugegen, nur die Zigeunerin saß unter dem Vorbau und blickte aus diesem Schatten mit glühenden Augen nach der schönen Egerin. Sie sah, wic Ignaz zum Brunnen trat, sich schwei¬ gend neben Marie stellte und ihr ein weißes Tuch zum Trocknen der Glas¬ schalen hinhielt. Sie glaubte in dem Angesichte des Burschen, das unver¬ wandt an dem schönen Mädchen hing, einen Ausdruck tiefen, schmerzlichen Nachdenkens wahrzunehmen. Vielleicht hatte sie recht; vielleicht las sie auch nur wie alle Menschen, gelehrte und ungelehrte, aus der Gegenwart und Vergangenheit, was in ihr selber vorging Jetzt schaute Marie mit freundlichem Auge empor und nahm das Tuch aus den Händen des Burschen. Der Zigeunerin schien in diesem Blick eine Aufmunterung zum Spre¬ chen zu liegen; sie sprang auf und stellte sich neben beide. „Was habt ihr miteinander? — Ich will es wissen!“ so rief sie und riß heftig den Arm des jungen Burschen zurück, mit dem er das Tuch gereicht hatte. Das andere Ende war bereits von Marie um eine Schale geschlun gen worden und die hastige Bewegung warf diese aus ihrer Hand und auf die Granitplatten des Hofes, daß die Glassplitter klirrend umherflogen. Die Besitzerin des Hauses war in demselben Moment in den Hof getre¬ 77 ten. „Was geht hier vor? fragte sie und erriet zugleich den ganzen Zusam¬ menhang, denn die anderen Dienst¬ boten hatten bereits über die Verhält¬ nisse geplaudert. „Wenn ich noch ein¬ mal das Zigeunermädchen im Hause treffe, lasse ich sie durch den Land¬ gendarmen hinauswerfen. Du hast hier nichts zu suchen — nach Eger mit dir, wo du hingehörst — unsere Gemeinde will von dir nichts wissen, du verdirbst mir die Leute.“ Die Zigeunerin stand sprachlos vor Wut, man sah ihr an, daß sie mit einem verzweifelten Entschlusse kämpfte, dann ergriff sie ihren Korb, zog ihr ver¬ schossenes Tuch über den Kopf, warf noch einen rachedürstenden Blick auf die Gruppe und sagte laut: „Ihr sollt mich nicht mehr wieder¬ sehen! Acht Tage vergingen, ohne daß man von der Zigennerin das geringste hörte. Marie und Ignaz glaubten, sie habe die Gegend verlassen und ihr Geschäft an einem anderen Orte fortgesetzt. Auch die übrigen Blumenverkäuferin¬ nen schienen sich der Entfernung ihrer eigensinnigen Beherrscherin zu erfreuen und der so oft unter Seufzern und Verdruß zurückgelegte nächtliche Weg erschallte jetzt meistens von fröhlichem

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2