Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

102 Tempel des Herrn wollte man hinüber¬ geleitet werden in das Jenseits. Je näher der Abend, je näher dann die zwölfte Stunde der Nacht herankam desto größer wurde der Zudrang zum Gotteshause, das die Schar der aufge¬ regten Menge nicht mehr zu fassen ver¬ mochte und Hunderte standen vor dem Kirchtor und heischten Einlaß. In der Kirche selbst herrschte wilde Verzweiflung; die einen beteten mit auf¬ gehobenen Händen, andere weinten und schluchzten und wieder andere harrten in stummem Hinbrüten der Dinge, die da kommen sollten. Auch der Zeugwart Konrad war mit seiner Tochter in der Kirche, beide stumm im Gebet versunken, während Siegbert draußen am Platze grimmig auf und nieder schritt und sich das Treiben der Menge, nicht eben sonderlich andächtig ge¬ stimmt, ansah. Immer näher rückt die zwölfte Stunde, das Weinen, Jammern und Klagen wird immer ärger, Mütter umschlingen ihre Kinder, der Gatte drückt das Weib an die ängstlich klopfende Brust, der Freund chüttelt, wie er vermeint, dem Freunde zum letztenmale kräftig, stumm und doch vielsagend die Hand. Jetzt ist es zwölf - langsam schlägt's vom Türmlein, Glockenschlag auf Schlag! Jetzt mußte das Schreckliche geschehen denn ein ungewisses Etwas in ihrem Innern hatte allen gesagt, es müsse die Welt mit lautem Getöse in ihr nichts, aus dem sie geworden, zurücksinken. Gra¬ besstille herrschte plötzlich in der Kirche und auch draußen war es ruhig ge¬ vorden, nur vereinzelte Seufzer und krampfhaftes Schluchzen waren noch ver¬ nehmbar. Mit gesenkten Häuptern erwartete die abergläubische Menge das Anbrechen des jüngsten Tages — sie wartete lange und jeduldig. Aber zum grenzenlosen Er¬ staunen aller geschah nichts von allem dem unbestimmt erwarteten. Die Erde erbebte nicht in allen Fugen, die Kirche stürzte nicht ein und begrub daher auch nicht die betende Menge unter ihren Trümmern, kein rasender Orkan fegte den aufwirbelnden Staub der einstürzen¬ den Gebäude weg — es blieb Ruhe und und trau¬ Friede in der Natur wie zuvor — lich=feierlich flimmerte das Kerzenlicht durch das Gotteshaus. Als Minute auf Minute verrann und sich noch immer nichts von dem Welt¬ ende zeigte, begann alles freier aufzu¬ atmen; erst blickten die Leute scheu und ungewiß hinauf zum Gewölbe, dann hoben ie kühner die Köpfe und der Alp, der schwer und herzbeklemmend auf allen Ge¬ mütern gelagert, begann langsam zu chwinden. Wieder war eine Stunde hinabge¬ rauscht in das Meer der Ewigkeit, der helle Glockenschlag verkündete, daß die erste Stunde des neuen Jahres verflossen war — horch! Ein Geklingel — aller Augen richten sich gegen den Altar: der Pfarrer von Sierning, der bisher macht¬ los dem Wahne seiner Pfarrkinder gegen¬ übergestanden war und es für das beste gehalten hatte, die Menge durch die Er¬ eignisse selber eines besseren belehren zu lassen, hielt es jetzt an der Zeit, die noch immer etwas aufgeregten Gemüter vol¬ lends zu beruhigen und wieder in das —er trat richtige Geleise zu bringen im vollen Ornat zum Altare und stimmte das Te Deum an. Mit Tränen der Freude in den Augen stimmte die Menge jubelnd mit ein und wie ein Blitz durchzuckte es die viel¬ hundertköpfige Menge: das „Weltende war wieder in unabsehbare Ferne hin¬ ausgeschoben. III. Unter den Letzten, die nach den auf¬ regenden Stunden dieses denkwürdigen Silvestertages und Abends die Sierninger¬ kirche verließen, befanden sich Zeugwart Konrad und seine Tochter Gertrude. Auf seiner Tochter Arm gestützt, wankte der Alte in's Freie, an Leib und Seele fast gebrochen. Ihm war der Trubel ganz besonders zu Herzen gegangen und Angst und Aufregung hatten ihm arg zu¬ gesetzt.

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