Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

100 die Erde in wenig Wochen aufhören wird zu sein? Diese hastig und mit großem Nach¬ druck ausgesprochene Frage des alten Zeugwarts machte auf alle Anwesenden einen tiefen Eindruck. Alles Geräusch verstummte plötzlich, der Graf stellte den Becher, aus dem er eben getrunken hatte, unwillkürlich leise auf die Tischplatte, die Spinnrädchen der Frauen stellten ihre Tätigkeit ein und aller Augen richteten sich auf den Schloßkaplan, der, als er sah, daß man von ihm eine genaue und ichere Auskunft erwarte, aufstand, zum Erker hinschritt, die Vorhänge, womit der Gräfin fürsorgliche Hand denselben abgeschlossen, auseinanderteilte und alle Anwesenden zu sich heranwinkte. Als alle nun in höchster Spannung um den Schloßkaplan herumstanden, wies dieser mit der Hand auf die schneebedeckte, prächtig vom hellen Mondlicht beschienene Landschaft hinaus, fuhr sich dann leicht, wie um seine Gedanken zu sammeln, über die hohe, Weisheit verkündende Stirne und sagte, erst mit noch leicht zitternder, dann aber immer fester wer¬ denden Stimme: „Ich bitte Euch, meine gnädigste Herrschaft und Euch alle anderen, von meiner Gelehrsamkeit nicht allzuviel zu erwarten, denn auch mir ergeht es, trotz eifriger, ein Menschenleben betriebener Studien, wie jedem Gelehrten, der sich ehrlich bewußt wird, auch ich empfinde es nur zu gut: Gott und seine Wege sind unergründlich und nur vermuten können wir die Wahrheit, wenn wir auch oft ganz nebensächliches protzig als Wissen betrachten. Die Frage des alten Zeug¬ warts will ich in zwei Teile zerlegen und so trachten, zu sagen, was ich denke. Der Zeugwart, so tapfer er auch gegen die Ungarn immer gefochten, tat diese Frage doch nur — aus Furcht über das Unge¬ wisse, das da kommen soll.“ „Es ist so“gab der Zeugwart klein¬ laut zu, „aber hier ist die Furcht doch wohl kein Fehler? „Furcht ist immer ein menschlicher Fehler, lieber Alter, wenn auch in un¬ serem Falle sehr entschuldbar,“ lächelte Pater Josef fein, „denn seit undenklichen Zeiten ist diese Art von Furcht da, die Furcht in einen Zustand zu kommen, der vom ir¬ dischen Leben grundverschieden ist, den man nicht einmal ahnen kann und von dem man auch nicht weiß, wie man in diesen Zustand gelangt, es ist nichts anders, diese Furcht vor dem Weltende, als die Todesfurcht! Und welch' sonder¬ bare Blüten sie treibt! Und keiner von uns verliert gar zu viel am Leben, nicht der Fürst und nicht der Bauer, es hat jeder seine Sorgen! Aber jeder lebt gern und daher finde ich es auch verständlich, daß jeder das gewisse Elend dem unge¬ wissen Kommenden vorzieht. Ich wollte hiemit nur gesagt haben, daß niemand die Furcht vor dem Weltende lächerlich inden soll, denn sie entspringt unserem innersten Sein — aber, die Weltende furcht ist, glaube ich, nicht notwendig und auch unser wackerer Zeugwart mag sie ablegen— so ihn Gott nicht abruft, durch das Weltende werden wir nicht in das bessere Inseits gelangen! „Ei, ei,“ unterbrach Ottokar, der aufmerksam zugehört hatte, seinen Schlo߬ kaplan, „Ihr seid da, wie ich wohl merke jetzt bei dem zweiten Teile Euerer Rede angelangt und, traue, Ihr müßt höhere Eingebungen haben, daß Ihr so sicher 7 uns zu trösten vermögt, mein Vater Der Schloßkaplan verstand wohl den leisen Spott, der aus den Worten seines Gebieters herausklang, aber er wurde nicht böse darüber. Wieder zeigte er mit der mageren, vom Alter fast blutleeren Hand zum Fenster hinaus und erwiderte sanft: „Blickt doch hinaus in das Tal der Enns und in jenes der Steyr, gnädigster Herr! Sagt Euch das Vorgehen der Natur, daß die Erde heute bereits ihre Lebensfähigkeit, ihre Bestandeskraft ver¬ loren habe? Zeigten sich am Himmel Zeichen und Wunder, die auf störende Gewalten im Haushalte der Natur hin¬ deuteten? Mich däucht, das Weltall zeigte sich uns im heurigen Jahre so gut geregelt wie immer, und ist es nicht ein

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2